chlauheit
Die Natur scheine den Skorpionen eine ganz besondere
Schläue («sophismata») mitgegeben zu haben, meint der Tiergeschichtensammler
Claudius Aelianus im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Vor allem in
Libyen versuchten die Leute mit allen Mitteln, sich der tückischen Bisse dieser
Spinnentiere zu erwehren: Sie zogen hohe Stiefel an, bauten ihre Betten weit
über dem Erdboden und weggerückt von den Wänden, sie stellten die Bettfüße in
Wassergefäße und glaubten dann, sich in aller Ruhe dem Schlaf hingeben zu können.
"Aber zu welchen Listen greifen nicht die Skorpione!", fährt Aelian
fort. "Wenn ein Skorpion im Dach eine Stelle findet, wo er sich anhängen
kann, dann hält er sich dort mit den Klauen [gemeint sind die scherenförmigen
Kiefertaster] fest und senkt seinen Stachel nach unten.
Dann klettert ein zweiter vom Dach herab über den ersten hinweg, klammert sich
mit den Klauen an dessen Stachel und läßt seinen eigenen in die Luft hängen.
Daran hält sich dann ein dritter fest und ein vierter am dritten und ein fünfter
noch dazu, und die Nachfolgenden kriechen immer wieder über ihre Vorgänger.
Dann sticht der letzte Skorpion den Schlafenden und klettert wieder über den,
der über ihm hängt, nach ihm der nächste, dann der drittunterste, dann die übrigen,
bis die ganze Reihe auseinander ist wie eine aufgelöste Kette.
- (
schen
)
Schlauheit (2) Wenn schon Monsieur de Bouillon,
unbestritten der beste Kopf der Bewegung, an Hintertürchen zu denken begann,
in einem Augenblick, wo alles so günstig für uns stand, so würde es den anderen
schwerfallen, nicht durch die Flügeltüren zu gehen, die man ihnen aufs
sorglichste weit öffnen würde. Was mich über allen Vergleich hinaus weit mehr
bekümmerte als alles andere, war, daß ich nun dem Sinn und dem Plan de Bouillons
auf den Grund sah. Jenen hatte ich für ausgreifender, diesen für höher zielend
gehalten, als sich bei der Gelegenheit herausstellte, die ja nun doch die entscheidende
war, da es darum ging, das Parlament miteinzubeziehen oder nicht. Mehr als zwanzigmal
hatte er mich gedrängt, das zu tun, wozu ich mich jetzt erbot. Der Grund, der
mich veranlaßte, ihm anzubieten, was ich immer verworfen hatte, war die Erklärung
seines Bruders, die, wie Sie wohl denken können, ihm mehr Machtzuwachs brachte
als mir. Statt nun zuzupacken, wird er schwach, weil er denkt, jetzt wird ihm
der Mazarin Sedan ablassen; bei solcher Aussicht
klammert er sich nun an das, was sie ihm glatt verschaffen kann: gibt dem kleinen
Geschäft den Vorzug vor dem großen Vorteil, den es ihm bringen konnte, Europa
den Frieden zu schenken. Dieser Schritt, an dem nach meiner Überzeugung Madame
de Bouillon, die viel Macht über ihn besaß, großen Anteil hatte, gab mir Anlaß,
Ihnen zu sagen, obwohl man große Gaben an ihm fand, so erschiene es mir doch
zweifelhaft, ob er in solchem Maße, wie man es glaubte, jener großen Taten fähig
gewesen wäre, die er nicht vollbrachte. Es gibt keine Eigenschaft, die so sehr
jenen eines großen Mannes abträglich ist, wie die Unfähigkeit, die Sternstunde
seines Ruhmes wahrzunehmen. Fast immer verfehlt man sie in der Absicht, desto
besser sich der Stemstunde seines Besitzes zu versichern; und da betrügt man
sich gemeinhin doppelt. Er war nicht geschickt, so finde ich, bei dieser Gelegenheit,
und zwar weil er sich als schlau erweisen wollte. Das kommt öfter vor.
- (
retz
)
Schlauheit (3) Es war mir klar, daß der Bettler mit meinem Schuldgefühl rechnete: aber das Schuldgefühl ist für mich ein gefundenes Fressen.
So geht's nicht, mein Lieber. Du kannst mich vielleicht durch den Überdruß
herumkriegen, aber ich bin ziemlich schlau, du wirst schon sehen. Anzufangen
ist bei der Voraussetzung, daß der Bettler »nicht existiert«; das ist weder
leicht noch natürlich: es ist eine asketische Übung. Sobald er seinen Singsang
anstimmt, ist er als nicht existent zu erklären; seinetwegen beschleunigt man
weder den Schritt noch schaut man ihn an, wenn man zufällig in seine Richtung
blickt, schaut man über ihn hinweg oder durch ihn hindurch; man versucht nicht,
ruckartig über die Straße zu gehen, außer es kommt gerade ein Auto; man bleibt
stehen und man läßt den Bettler sein Jammerlied bis zum Erbrechen wiederholen.
Man antwortet nicht auf seine hinterlistige Frage: »Aus welchem Land kommst
du?«, denn, da er nicht existiert, darf er keine Fragen stellen; sein Jammerlied
ergießt sich wie Balsam über uns. Der Bettler ist wiederum auf dieselbe anonyme
Weise zu akzeptieren wie der Schmutz der Hütten; er ist weder sentimental, noch
besteht er darauf, als Armer Rechte zu haben, er hat nur verstanden, daß seine
Lebenslage den Abendländer aus ihm unerfindlichen Gründen beunruhigt und daß
dieser, um seine eigene Unruhe zu beschwichtigen, ihm Geld gibt. Das abendländische
Verhalten ist ihm wahrscheinlich unverständlich und leicht verdächtig, aber
ein Abendländer kann, wenn geschickt und distanziert verwendet, von einigem
Nutzen sein. Der Abendländer ist nicht ans Sterben gewöhnt und versucht auf
plumpe Art seine Götter günstig zu stimmen. Er strebt danach, »gut« zu sein,
was eine bruchstückhafte Kenntnis vom Weg der Seelen beweist. Der Abendländer
hat Geld, ist geil und schwach: also aus dem richtigen Stoff für Zuhälter und
Bettler. Aber wenn man ihm, dem Bettler, nicht mit Gesten, sondern mit dem ganzen
Körper, mit dessen Unerschütterlichkeit zu verstehen gibt, daß er »nicht existiert«
- was er in gewissem Sinn ja schon weiß -, dann läßt er sich überzeugen; sein
Singsang ermattet, erstirbt, er beäugt ein anderes Bleichgesicht und läßt mit
einem Ruck von dem Gleichgültigen ab und stimmt an
anderer Stelle sein Jammerlied an. - Giorgio Manganelli,
Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)
Schlauheit (4) Ein Lügner
ist ein Mensch, der nicht zu täuschen versteht,
und ein Schmeichler täuscht meist nur Dummköpfe.
Nur wer sich der Wahrheit geschickt zu bedienen
weiß und ihre Kraft kennt, darf sich einbilden, schlau zu sein.
-
(vauv)
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