äuschung   Als Voltaire bei Frau von Châtelet und sogar in ihrem Zimmer war, unterhielt er sich mit dem Abbé Mignot, der damals noch ein Kind war, und hielt ihn auf seinen Knien. Er fing an, mit ihm zu schwätzen und ihm Belehrungen zu erteilen. »Kleiner Freund«, sagte er ihm, »um Erfolg zu haben bei den Menschen, muß man die Frauen auf seiner Seite haben, um die Frauen auf seiner Seite zu haben, muß man sie kennen. Du mußt also wissen, daß alle Frauen falsch und liederlich sind.« - »Wie! Alle Frauen! Was sagen Sie da?«  sagte Frau von Châtelet zornig. »Madame«, sagte Voltaire, »man darf die Jugend nicht täuschen.«  - (Chamfort)

Täuschung (2)  »Unter den Trugwahrnehmungen des Delirium tremens«, sagt Kraepelin, »pflegen diejenigen des Gesichts zu überwiegen. Die Täuschungen sind meist von großer sinnlicher Deutlichkeit, seltener schattenhaft, unbestimmt, vielfach schreckhaft und unangenehmen Inhalts. Sie werden von den Kranken bald als Wirklichkeit, bald als künstliche Vorspiegelungen - Laterna magica, Kinematograph - betrachtet, die sie belustigen oder erschrecken sollen. Vielfach sehen sie massenhaft kleinere und größere Gegenstände, Staub, Flocken, Münzen, Schnapsgläschen, Flaschen, Stangen. Fast immer zeigen die Gesichtsbilder mehr oder weniger lebhafte Bewegung...; auch Doppelt-Sehen wird beobachtet. Aus dieser Unstetigkeit der Trugwahrnehmungen erklärt sich vielleicht die Häufigkeit, mit der schlüpfende, huschende Tiere gesehen werden. Sie drängen sich zwischen die Beine, schwirren in der Luft herum, bedecken das Essen; alles wimmelt von Spinnen »mit goldenen Flügeln«, Käfern, Wanzen, Schlangen, Gewürm mit langen Stacheln, Ratten, Hunden, Raubtieren... Große Menschenmengen dringen auf die Kranken ein, feindliche Reiter, sogar »auf Stelzen«, Gendarmen, oder marschieren in langen, abenteuerlich gruppierten Zügen an ihnen vorbei; einzelne gefahrdrohende Spukgestalten, Mißgeburten, kleine Männer, Teufel, »Feuerrüpel«, Gespenster stecken den Kopf in die Türe, huschen unter den Möbeln herum, steigen auf Leitern in die Höhe. Seltener sind geputzte lachende Mädchen oder schlüpfrige Vorgänge, Fastnachtsscherze, Theateraufführungen.

... . Durch verschiedenartige, absonderliche Empfindungen auf der Haut entsteht bei dem Kranken die Idee, daß Ameisen, Kröten, Spinnen auf ihr entlangkriechen... Er fühlt sich von feinen Fäden eingesponnen, mit Wasser angespritzt, gebissen, gestochen, geschossen. Er sammelt Geld, das er massenhaft herumliegen sieht und deutlich in der Hand fühlt, aber es zerrinnt wie Quecksilber. Was er anfaßt, schwindet, kriecht zusammen oder wächst ins Ungeheure, um wieder zu zerfallen, fortzurollen, wegzufließen.

Die kleinen Knoten und Unregelmäßigkeiten des Gewebes erscheinen wie Flöhe auf dem Bettzeug, die Schrammen der Tischplatte als Nadeln; in den Wänden öffnen sich geheime Türen.

Der Kranke ist völlig außerstande, sich wirklich geordnet zu beschäftigen, wird vielmehr durch die Täuschungen vollkommen in Anspruch genommen. Selten läßt er diese einfach an sich vorüberziehen; meist veranlassen sie ihn zu lebhaften Äußerungen. Er bleibt nicht im Bett, drängt zur Türe hinaus, weil es bereits die höchste Zeit zu seiner Hinrichtung sei und alle schon auf ihn warten. Über die wunderlichen Tiere belustigt er sich, schreckt vor den schwirrenden Vögeln zurück, sucht das Gewürm wegzuwischen, die Käfer zu zertreten, greift mit gespreizten Fingern nach den Flöhen, sammelt das überall herumliegende Geld auf, sucht die ihn umspinnenden Fäden zu zerreißen, hüpft mit peinlicher Anstrengung über die an der Erde gezogenen Drähte hinweg.«   - (cane)

Täuschung (3)    DAS SCHWEIGEN DER SIRENEN

Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können:  Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können, außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und  die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen.

Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.

Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.

Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu. hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.

Sie aber - schöner als jemals — streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen.

Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.

Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten. - (kaf)

Täuschung (4)  Täuschen heißt lieben. Wann immer ich ein hübsches Lächeln oder einen bedeutungsvollen Blick sehe, überlege ich sofort — einerlei, wem Lächeln oder Blick gehören —, wer wohl in der Tiefe jener Seele, deren Gesicht uns zulächelt oder anblickt, der Politiker ist, der uns da kaufen will, die Dirne, die will, daß wir sie kaufen. Doch der Politiker, der uns kauft, hat zumindest an seinem Kauf Freude; und die Dirne freut sich zumindest,- wenn wir sie kaufen. Ob wir wollen oder nicht, wir können der universalen Brüderlichkeit nicht entkommen. Wir lieben alle einander, und die Lüge ist der Kuß, den wir tauschen.  - Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Zürich 2003
 

Schwindel Wahrnehmung
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Enttäuschung

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