Nun, das ist durch die Tatsache widerlegt, daß ich ja hier rede. Ich bin das Knie, das übrig ist von Obergefreiten Wielands Bein, Körper, oder dem ganzen Mann, zu dem ich früher gehörte, bis er am 29. Januar 1943 in Stalingrad gefallen ist, im Nordkessel. Ich bin übrig, und ich möchte einiges richtigstellen und durcheile die Welt und spreche zugleich für den ganzen Obergefreiten Wieland mit, denn niemand ist einfach nur tot, wenn er stirbt.
So kann man uns nicht abschreiben, die Wünsche, die Beine,
die vielen Glieder, Rippen, die Haut,
die friert, und eben: wenn nichts anderes übrig ist
als das: Ich, das Knie, dann muß ich reden, reden, reden. Wenn ich nicht
schon im üblichen Sinn lebe, als Stück eines ganzen Mannes, dieser als Stück
eines Volkes, dieses als Stück der Geschichte, der Tiere, der Natur, der Gärten,
der Bäume, usw., usf. Man soll sich daran gewöhnen, daß ich hier rede.
Ich habe ein Anrecht dazu. Ich fordere nichts, weder, daß man mir glaubt, noch
daß es einen Sinn hat, was ich sage. Nur reden muß ich. »Wenn jemand ein
Recht hat, dann fordert er es nicht, sondern er kämpft darum.« - Alexander
Kluge, Die Patriotin. Texte/Bilder 1-6. Frankfurt am Main 1979
Knie (2) Verzerrte Bilderwelt des Knies. Soldaten erheben sich, bewegen sich vorwärts und wieder in die geduckte Ausgangsstellung. Inzwischen wird aber eine Explosion im Vordergrund gezündet. Die Bilder wiederholen sich. Die Akzentuierung liegt auf der Bewegung der Glieder, die jeweils sich straffen und einknicken. Etwa: Was in Faust II, 5. Akt die Lemuren tun. Die Bewegung endet auf dem Gesicht eines jugendlichen Soldaten, groß, eventuell handelt es sich um Obergefreiten Wieland, der eine Panzerfaust abschießt, das Geschoß kehrt aber immer wieder zu ihm zurück.
DAS KNIE (synchron zur Bildbewegung):
Nun ist festzuhalten, daß ein Knie grundsätzlich vorwärtsschreitet. Alle
halben Meter einknicken und alle halben Meter straffen. Das über 2000 km bis
Stalingrad, dirigiert von einem zänkischen Gehirn,
das ja jetzt im Nordkessel liegt und nichts mehr zu sagen hat. Man hat gesagt,
daß ich zu oft das Wort grundsätzlich gebrauche. Das ist richtig. Das ist eine
von mir übernommene Angewohnheit von Obergefreiten Wielands Hirn. Das sagte
immer »grundsätzlich«, wenn es trietzte. Ich selber habe keine Grundsätze, sondern
den festen Willen zu überleben, dahinzueilen, mache Erfahrungen und nicht Grundsätze.
Man darf sich nicht daran halten was ich so rede. Schließlich rede ich als Knie
ja gar nicht, weil mir das Sprachorgan fehlt. Ich bin nicht die Kniescheibe
und bin nicht die Kniekehle; ich bin nicht der Unterschenkel und ich bin nicht
der Oberschenkel, die sind umgekommen, sondern das Dazwischen. Versuchen Sie
einmal einen Gegner zu finden, der das Dazwischen zielsicher trifft. (Währenddessen
wird das Panzerfaustgeschoß abgeschossen, kehrt aber immer wieder zurück). -
Alexander Kluge, Die Patriotin. Texte/Bilder 1-6. Frankfurt am Main 1979
Knie (34)
Ein Knie geht einsam um die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts.
Es
ist kein Baum, es ist kein Zelt,
es ist ein Knie, sonst nichts.
Im Krieg ward einmal ein Mann,
erschossen um und um.
Sein Knie allein
blieb unverletzt,
als wär's ein Heiligtum.
Seitdem:
Ein Knie geht einsam um die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts.
Es
ist kein Baum, es ist kein Zelt,
es ist ein Knie, sonst nichts.
- Christian Morgenstern, nach:
Alexander Kluge, Die Patriotin. Texte/Bilder 1-6. Frankfurt am Main 1979
Knie (4) heisset derjenige Theil eines Fusses, wo z. E. an einem
Menschen das obere dicke Bein und das Schien-Bein zusammen stossen.
Dieses Gelencke bedecket ein noch anderes dickes rundes Bein, welches
die Knie-Scheibe heisset; doch ist diese nicht durchgängig bey allen
Füssen derer andern unvernünfftigen Thiere anzutreffen, sondern nun bey
einigen und zwar bey denen vierfüssigen an denen vordern Schenckeln zu
finden. -
Zedler,
nach Wikisource
Knie (5)
Knie (6) Das Knie ist die Achillesferse
des Beins. - Nach: Douglas R. Hofstadter, Metamagicum. Stuttgart
1991
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