ein »Sowas hört man gern«, sagte der Krüppel. »Denn wer außer mir könnte beurteilen, was ein großes Herz ist? Mit einem einzigen Bein fuhr ich die Harley, aber als ich dann auch das zweite verlor ...« Er sagte es bitter, hob die Hände und ließ sie schwer auf die Lehnen des Rollstuhls fallen. »Entschuldigen Sie«, flüsterte die Mutter.
»Nichts zu entschuldigen, liebe Frau. Doch zur Abwechslung etwas Lustiges.
Ich hatte meinen Bruder im Beiwagen sitzen. Mein linkes Bein war damals schon
futsch, ich trug eine eiserne Prothese. Wie wir so dahinfuhren, machte sich
plötzlich der Beiwagen los. Ich hatte die Prothese auf die Verbindungsstange
zwischen Beiwagen und Motorrad gelegt. Als die Stange brach, riß es mir die
Prothese samt dem ledernen Hosenbein ab. Der Bruder krachte in den Graben, ich
flog auf die Straße, meine Prothese aber schwirrte ein Stück durch die Luft
und ging dann vor zwei Frauen nieder. Die eine fiel gleich in Ohnmacht. Mir
war nichts passiert, ich hüpfte auf einem Bein die Straße entlang, um mir die
Prothese zu holen. Als mich die zweite Frau so ankommen sah, ging auch sie zu
Boden. Mit einem Bein läßt sich noch einiges anstellen, aber jetzt? Ich bin
mürrisch und unangenehm geworden.« - Bohumil Hrabal, Der Tod
des Herrn Baltisberger. In: B. H., Die Bafler. Erzählungen. Frankfurt am Main
1966 (es 180, zuerst 1964)
Bein (2) Aus dem nebelgeschlinge, das sich in dichten weichen spiralen über den rotbeerigen, entlaubten sträuchern des ziemlich abschüssigen berghanges bewegte, wurden plötzlich zwei menschliche beine bis an die oberschenkel sichtbar, die geschickt springend, und in dem losen geröll immer wieder nach festem halt suchend, der paßstraße zustrebten, die sich in grauen serpentinen dahinzog.
Filiberto Betti, der grenzsoldat, der bald diese unerwartete erscheinung gewahr wurde, blieb stehen und verfolgte sie aufmerksam durch seinen feldstecher. Er wunderte sich schließlich, daß stets nur die beine des auf ihn zukommenden sichtbar blieben, nicht aber, wie es normalerweise unvermeidlich hätte sein müssen, auch hin und wieder körper, arme oder gesicht.
Er setzte seinen feldstecher ab, nahm den karabiner von der schulter, entsicherte diesen und wartete, indem er die waffe schußbereit in hüfthohem anschlag hielt, auf das kommende. Die springenden beine mochten nun von ihm nicht viel mehr als dreißig meter entfernt sein, doch noch immer zeigte sich von anderen körperteilen keine spur, obgleich der nebel auf diese distanz bereits gut durchschaubar war und bloß aus einigen sich träge windenden säulen bestand.
Er hob den karabiner und rief sein gewohntes „Halt, stehenbleiben, oder ich schieße!", doch die beine bewegten sich weiter auf ihn zu.
Er feuerte aufs geratewohl zwei-, dreimal ab. Die beine kamen jedoch keinesfalls zum stillstand, sondern schienen durch die beißenden detonationen, die das große schweigen des herbstlichen gebirges unangenehm zerrissen, zu noch mehr eile angetrieben, und ehe es sich Filiberto Betti versah, standen sie auch schon vor ihm, scharrten ein wenig in dem frostigen Schotter der bergstraße hin und her — und begannen plötzlich hopsend zu tanzen. Es handelte sich tatsächlich um richtige, lebende menschenbeine, die aber dort, wo sie ordnungsgemäß an einen leib hätten anschließen sollen, in nichts anderes als zwei nebelfetzen ausliefen. Sie waren nackt, offensichtlich die eines mannes (Betti schloß das aus ihrer derbheit und starken behaarung), und beim genaueren hinblicken bemerkte er an den beiden knöcheln einen geflochtenen ring aus grasbüscheln, von der art, wie ihn afrikanische tänzer tragen.
Filiberto, ein robuster bauernsohn aus dem Aostatal, blieb von der einigermaßen absurden erscheinung dennoch ungerührt und feuerte nach der stelle, wo er den nicht sichtbaren brustkorb vermutete, einen vierten schuß ab — doch ohne erfolg: die nackten beine tanzten und hopsten mehr als zuvor. Dann, als sie nach einer weile endlich zum stillstand kamen, hörte Filiberto einige kehlig hervorgestoßene wörter in einer sprache, die er noch nie gehört hatte, und die ihn auch an kein ihm bekanntes idiom erinnerten. Es klang etwa wie „Tremel schnan driar urrechtvar n snern", so wenigstens gab der gut deutsch und französisch sprechende korporal bei seinem späteren rapport an.
"Parla italiano, français, deutsch?" versuchte er. Statt einer antwort jedoch sammelten sich einige hagebuttenfrüchte, die noch an einem nahen Strauch lose hingen, zu einem kleinen roten ballen, der nach einem kurzen schwenk in der höhe, wo Betti den mund des unsichtbaren vermutete, verschwand.
"Asnurc n hart, coindl!" sagte die kehlige stimme, und es klang, als habe der sprecher einen bissen zwischen den backen.
Filiberto Betti trat nun auf die stämmigen beine zu und schlug mit dem kolben des umgedrehten karabiners dagegen, worauf sich der derbe rechte fuß erhob und dem verdutzten soldaten die waffe aus den händen schleuderte.
"Snarca!" knurrte die mundlose stimme, und Filiberto Betti blieb
fürs erste nichts anderes übrig, als sich nach seinem einige meter von ihm im
geröll liegenden karabiner zu bücken. Aber gleich darauf, in diesem augenblick
der achtlosigkeit, verspürte er einen schmerzhaften tritt,
der sein steißbein traf, ihn zu fall brachte und ihm für geraume zeit den atem
raubte. Er wischte sich fluchend über die tränenden äugen und suchte sich gerade
zu richten; den karabiner hatte er lose über die schulter gehängt. Als er wieder
so weit war, sich um die beiden schrecklichen beine zu kümmern, mußte er feststellen,
daß sie verschwunden waren. - (
flag
)
Bein (3) Mein tapferer bär und ich waren nun in unsrer
verkleidung bis an die käfige der unglücklichen opfer herangekommen und konnten
die metzgerischen wächter und wärter bereits mit ohnbewaffneter nase riechen
.. Sie saßen müßig umher, wie eben sonst auch in edleren gegenden sauhirten
oder selchergesellen umhersitzen, um die ferckel oder schincken-würst vor dem zugriff diebischer gewalten zu bewahren. Einer von diesen unseligen unterstunde
sich sogar, vor unsren augen seelenruhig ein gekochtes menschenbein abzunagen,
ja, es schien ihm so zu schmecken, daß er noch lang am leergenagten knochen
mit seinem schändlichen maul umführe, als könnt er überhaupt nimmer aufhören
mit seiner teuffelsvesper! Wir mußten, da uns kein anderer das zuwarten hätt
abgenommen, ohntätig und mit umgedrehten mägen zusehen. Die zeit des losschlagens
war noch nicht gekommen und, obgleich der treue Rufus ganz zornig schon auf
die zeiger seiner zwiebeluhr blickte, kroch sie dahin als ein rechter faulpeltz
auf schlechten steltzen. Aber wie langsam auch die stunde der abrechnung kommt,
so sicher kommt sie. -
H.C.Artmann
,
Der aeronautische Sindtbart oder Seltsame Luftreise von Niedercalifornien nach
Crain. Ein fragment von dem Autore selbst aus dem yukatekischen anno 1958 ins
teutsche gebracht sowie edirt & annotirt durch Klaus Reichert. München
1975 (dtv 1067, zuerst 1958)
Bein (4) Die Nacht fing eigenartig an. Wir
hatten einem schweren, kräftigen Mann das Bein amputiert, ganz oben an der Hüfte.
Es war zu groß für den Abfalleimer, daher bekam ich den Auftrag, es ins Leichenhaus
zu schaffen. Es war noch warm, Blut troff von der Schnittfläche und aus der
Wunde. Ich wickelte viel Zellstoff herum und trug es auf beiden Armen, wie ein
dickes Kind, in die Nacht hinaus. Das Totenhaus lag, der Seuchengefahr wegen,
auf freiem Felde, abseits von Häusern und Wegen. Inmitten des dunklen Ackers,
den ich überqueren mußte, stolperte ich, das Bein rutschte von meinen Armen,
und ich fiel hin, mit dem Gesicht in die fleischige Masse des Oberschenkels.
Ein solches Grauen überkam mich, daß ich davonrannte. Erst nach einer Weile
hatte ich mich wieder in Gewalt, suchte das Bein und schaffte es ins Schauhaus.
Es war inzwischen völlig erkaltet. -
Wieland Herzfelde, Immergrün. Merkwürdige Erlebnisse und Erfahrungen eines fröhlichen
Waisenknaben. Berlin 1949
Bein (5) Wenn ein Bein schmerzt,
das amputiert wurde, wo ist dann der Schmerz? Sagt man,
er sei im Kopf, wäre er dann auch im Kopf, wenn das Bein
nicht amputiert wurden wäre? Lautet die Antwort ja, was besteht dann für ein
Grund anzunehmen, daß man überhaupt ein Bein hat? - Bertrand
Russell, nach: David B. Morris, Geschichte des Schmerzes. Frankfurt am Main 1996
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