ertig     Henri Rilcer, genannt Fec, hatte alles hinter sich. Er war mit allem fertig. Auch mit sich selber. Er lebte gleichsam vor sich einher. Ins Leere hinein.

Mit siebzehn Jahren war er acht Wochen lang der Geliebte einer fetten Jüdin gewesen, die vier braune Falten auf dem Hals hatte, sechs auf dem Bauch und drei kleine stets unsaubere Kinder. Der Vorzug, konstant zu lügen, machte sie ihm, wie er ostentativ hervorhob, so liebenswert. Vor allem aber bereitete es ihm unsägliches Vergnügen, von seiner Familie sich verachtet zu sehen. Als man sich daran gewöhnt hatte, brach er das Verhältnis brutal ab. Mit achtzehn Jahren hatte er seinen Vater geohrfeigt, weil dieser im Speisezimmer, in dem nicht geraucht werden sollte, ihm eine brennende Zigarette aus dem Mund nahm. Man warf ihn aus dem Haus. Zwei Wochen war er Schreiber bei einem Rechtsanwalt. Dann veruntreute er einen kleinen Betrag und verschwand. Später tauchte er bald hier bald dort auf. Man sah ihn häufig in den mondänen Kurorten, im Winter in Wien, London, Berlin, Rom. Er war immer elegant, fast stets allein, aber wenn er abgereist war, gab es irgendwie einen Skandal. Er war groß, schlank und hatte einen ausdrucksvollen Kopf, der einem Diplomaten ebenso gehören konnte wie einem Apachen. Mit dreißig Jahren kam er nach Paris zurück, von keinem seiner ehemaligen Freunde erkannt. Er war nun mit allem fertig. Er hatte alles hinter sich. Er trug jetzt einen saloppen grauen Anzug und ein dunkelgrünes Tuch um den Hals. Er schlief bei kleinen Huren oder in Treppenhäusern und lebte hauptsächlich von unbedeutenden Gelegenheitsdiebstählen.

Zwei Jahre führte er bereits dieses Leben. Er lebte gleichsam vor sich einher. Völlig ins Leere hinein. Bichette hatte er genommen, wie er Dutzende von Frauen genommen hatte. Und da er über Erinnerungen verfügte, neben denen Bichette wie ein kleines Nachtlicht glomm, hatte ihn weder ihre Schönheit noch ihre Wildheit erstaunt. Es war für ihn eine Gelegenheit wie jede andere, die sich ihm bot. Sie mußte sich ihm nur bieten. Er ging auf das Leben nicht mehr los. Er ließ alles an sich herankommen, ohne es halten zu wollen. Er hatte genug. Gegen Mittag, wenn er auf die Straße trat, oder wenn er angetrunken war, wunderte er sich oft, daß er noch lebte. - Walter Serner, Die Tigerin. Eine absonderliche Liebesgeschichte. München 1982 (dtv 10054, zuerst 1925

Fertig (2) So sehr er es auch versucht - er kann den Blick nicht von dem Kommissar abwenden, der wartet.

Janvier hat recht: er ist am Ende. Gewisse Zeichen täuschen nicht, zeigen deutlich, daß ein Mann fertig ist, daß die Maschine nicht mehr funktioniert und daß er nur noch eines will: sich von allem befreien, was er auf dem Herzen hat. Das ist Jacques Pétillon so deutlich anzumerken, daß man glauben könnte, er würde sein Saxophon hinlegen und auf Maigret zustürzen.

Einen Mann in einer solchen Angst zu sehen, ist nicht schön. Maigret hat schon so manchen dieser Art gesehen, hat selber gewisse Verhöre so aufgezogen - manchmal vierundzwanzig Stunden und länger -, um seinen Gesprächspartner, seinen Patienten vielmehr, physisch und psychisch zur Strecke zu bringen.

Diesmal ist das nicht nötig. Er hat nicht geglaubt, daß Pétillon der Täter sein könnte. Er hat sich nicht mit ihm befaßt, hypnotisiert von dieser seltsamen Félicie, an die er unaufhörlich denkt.

Er trinkt. Pétillon wundert sich gewiß, ihn so gleichgültig zu sehen. Seine Hände mit den langen, dünnen Fingern zittern. Seine Kollegen beobachten ihn verstohlen.

Was hat er mit einer solchen Verbissenheit in den letzten achtundvierzig Stunden gesucht? An welche Hoffnung hat er sich geklammert? Nach wem spähte er in jenen Cafés, in jenen Bars aus, in die er nacheinander ging und wo er unverwandt zur Tür starrte? Aber immer wieder wurde er enttäuscht und suchte dann anderswo, bis er schließlich nach Rouen fuhr und sich in ein Bordell im Kasernenviertel begab.

Er ist fix und fertig. Selbst wenn Maigret nicht hier wäre, würde er von sich aus zum Quai des Orfèvres gehen und bitten, jemanden sprechen zu können ... - Georges Simenon, Maigret und das Dienstmädchen. München 1971 (Heyne Simenon-Kriminalromane 100, zuerst 1941)

Fertig (3)

Fertig

- Thomas Körber

Ende

 

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