Anamnese  »Zuerst müssen wir Sie nach Ihrer Vergangenheit fragen«, sagte Dr. Livermore freundlich. »Sind Sie verheiratet?«

Crane dachte eine Weile nach. »Nein«, sagte er dann.

»Haben Sie jemals unter schweren Krankheiten gelitten?«

»Scharlach, Keuchhusten und Furunkel

Dr. Livermore sagte: »Machen Sie bitte keine Witze, Mr. Crane.«

»Hatten Sie jemals Furunkel?« erwiderte Crane.

Miss Clayton brach in ein Kichern aus, das plötzlich zu einem Niesen wurde, als sich Dr. Livermore nach ihr umdrehte.

»Haben Sie nachts Kopfschmerzen?«

»Nein«, sagte Crane. »Kopfschmerzen habe ich eher am Morgen.«

»Aha, Sie trinken also.«

»Sie etwa nicht?«

Dr. Livermore warf seinem Kollegen einen Blick zu. Eines von Dr. Eastmans Augenlidern bewegte sich in zustimmendem Blinzeln.

»Wie alt sind Sie?« erkundigte sich Dr. Livermore.

»Zweiunddreißig.«

»Welcher Kirche gehören Sie an?«

»Keiner.«

»Können Sie ›Methodist Episcopal‹ nachsprechen?«

»Methodist Episcopal.«

Dr. Livermore wechselte neuerlich einen Blick mit Dr. Eastman. Miss Clayton schrieb etwas auf ihren Zettel.

»Wie schlafen Sie?«

»Allein.«

Miss Clayton schien das komisch zu finden.

Dr. Livermore war sehr geduldig. »Ich meine, wie gut schlafen Sie?«

»Sehr gut.«

»Wann haben Sie Geburtstag?«

»Am dritten Oktober.«

»Können Sie sich daran erinnern, wo Sie an Ihrem dreißigsten Geburtstag waren?«

»Sicher.« "    

»Und wo?«

»Das möchte ich lieber nicht sagen«, sagte William Crane.

»Wir können Ihnen nicht helfen, wenn Sie uns nicht Ihrerseits helfen wollen.« Dr. Livermores Bart bebte beleidigt.

»Dann fragen Sie mich besser nach einem anderen meiner Geburtstage.«

Crane zwinkerte Miss Clayton zu, die sich für die Spitze ihres Schreibgeräts zu interessieren schien.

»Macht nichts.« Dr. Livermore drehte sich zu seinem Schreibtisch. »Was haben Sie zuletzt gegessen?«

»Das ist so lange her«, sagte Crane, »daß ich mich kaum daran erinnern kann.«

»Kommen Sie schon«, sagte der Doktor streng. »Ihre letzte Mahlzeit!«

»Das muß das Frühstück gewesen sein«, erwiderte Crane. »Wissen Sie, es ist nett von Ihnen, daß Sie mich nach meinem Frühstück fragen. Ich liebe es, den Leuten von meinem Frühstück zu erzählen. Ich habe mit einem Glas Orangensaft begonnen, dann hatte ich weichgekochte Eier, gebutterten Toast, Kaffee und prima Marmelade. Natürlich habe ich an manchen Morgen -«  - Jonathan Latimer, Mord bei Vollmond. Zürich 1991 (zuerst 1935)

Anamnese (2) Der Arzt hat die wunderbare Gelegenheit, tatsächlich Zeuge zu sein, wenn die Worte geboren werden. Ihre wahren Farben und Formen werden mitsamt den kleinen Bürden, die sie tragen, vor ihm ausgebreitet, und er genießt das Privileg, sie in ihrer unverdorbenen Neuheit in seine Obhut nehmen zu dürfen. Er sieht die Mühe, unter der sie geboren wurden, und was ihnen auszurichten bestimmt ist. Außer dem Sprecher und uns selbst ist niemand zugegen, wir sind buchstäblich die Eltern dieser Worte. Nichts kann bewegender sein.

Aber nachdem wir die ganze Skala der einfachen Bedeutungen, die man im Lauf der Jahre mitbekommt, durchlaufen haben, ändert sich langsam etwas. Wir kennen den Spielraum, innerhalb dessen wir kommunizieren können. Das Mädchen, das atemlos in meine Praxis stolpert, in ihrer Unterwäsche einen noch atmenden Säugling, und mich bittet, ihre Mutter aus dem Zimmer zu weisen; der Mann, der den Verstand verloren hat - sie alle sagen let/ten Endes das gleiche. Und dann schiebt sich eine neue Bedeutung dazwischen. Denn unterhalb dieser Sprache, die wir unser Leben lang vernommen haben, bietet sich uns eine neue, eine schwerer zu verstehende Sprache an, die allen Dialektiken zugrunde liegt. Man nennt das Poesie. Es ist die letzte Phase.

Das ist es, erkennen wir, was sie jenseits all dessen, was sie gesagt haben, zu sagen versucht haben. Sie lachen (denn sind sie nicht lächerlich?);  sie können sich nichts vorstellen, das sinnloser wäre (und sind sie es nicht selbst?); etwas, das aus Worten gemacht ist (Haben sie nicht ihr Leben lang versucht, Worte zu gebrauchen?) . Wir beginnen zu verstehen, daß der tiefere Sinn all dessen, was sie uns sagen wollen und nie haben vermitteln können, das Gedicht ist, jenes Gedicht, das nur sie mit ihrem Leben realisieren können. Niemand wird es glauben. Es ist enthalten in den Worten, wie wir sie unter allen möglichen Umständen zu hören bekommen. Es ist tatsächlich da, in dem Leben, das wir da vor uns haben, in jeder Minute, die wir ihnen zuhören - etwas ganz Außerordentliches, das nicht in unserer Phantasie existiert, sondern da ist, wirklich da. Es ist jene Substanz, die in eben den Worten verborgen ist, die uns in die Öhren kommen und aus denen wir den tieferen Sinn so sachlich herausholen müssen wie Metall aus Erz.

Das Gedicht, das jeder von ihnen uns mitzuteilen versucht, liegt in den Worten. Zumindest wird es von den Worten zur Sprache gebracht. Das ist schon immer so gewesen. Gelegentlich wird ein außerordentlicher Mensch geboren, derein Gerücht davon aufschnappt-ein Homer, ein Villon -, und seine Nation und die Welt bewahren ihn im Gedächtnis. Ist es nicht offenkundig, warum? Der Arzt, der Tag für Tag zuhört, bekommt bei seinem Beruf auch ein wenig davon mit. Indem wir auf die kleinsten Variationen der Sprache achten, erkennen wir allmählich, daß heute, wie eh und je, die im Wust der Worte verborgene Substanz nur darauf wartet, entdeckt zu werden.

Gharakteristisch für dieses Außerordentliche ist es aber, daß es sich ungern zur Schau stellen läßt, daß es schüchtern und rachsüchtig ist. Es ist kein Name, der auf dem Markt in Umlauf gebracht wird, und ebensowenig ist es etwas, das sich einfangen und von den Akademien ausbeuten läßt. Sein Gesicht ist ein besonderes Gesicht, es kann unter den unwahrscheinlichsten Masken auftreten. Von früheren Auftritten her kann man es nicht wiedererkennen - tatsächlich ist es immer ein neues Gesicht. Es weiß alles, was wir gewohnheitsmäßig beschreiben. Bei jedem Auftritt wird es ein anderes Gewand anlegen. Und es ist unser Leben. Es ist wir selbst, wir sind es in unseren kostbarsten Augenblicken, doch kann es sich zumeist nicht verständlich machen, und nur alle fünf-oder sechshundert Jahre gelingt es einem Menschen, es mit ein paar begnadeten Sätzen im Gedicht festzuhalten.

Das Gedicht entsteht aus den halbgesprochenen Worten von Patienten, wie der Arzt sie Tag für Tag zu hören bekommt. Er bemerkt es in den eigenartigen konkreten Strukturen, in denen das Leben verborgen ist. Er unterwirft sich ihm und ist bemüht, durch ausdauernde Übung eine Interpretation für seine besondere Ausdrucksweise zu finden. Da liegt das Geheimnis. Am Ende, nachdem er ein Lebenlang sorgfältig zugehört hat, wird dies vielleicht der wahre Beruf des Arztes.  - (wcwa)

 

Diagnose Erinnerung

 

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