eitlupe
Wir stellen uns ein schleichendes, quälend langsam voranschreitendes
Verhängnis vor: die Apokalypse
in Zeitlupe. Sie erinnert an jenen ergrauten Klassiker der Stummfilm-Avantgarde,
in dem ein riesiger Fabrikschlot zu sehen ist, wie er geräuschlos auf der Leinwand
zerbricht und in sich zusammenstürzt, zwanzig Minuten lang, während die Zuschauer,
in einer Art schläfrigen Komforts, sich zurücklehnen in ihren abgeschabten Samtsesseln
und Popcorn und gebrannte Mandeln knabbern. Nach der Vorstellung betritt der
Futurologe die Bühne. Er sieht aus wie eine schlechte Imitation von Dr. Strangelove,
dem Wahnsinnigen Wissenschaftler, nur daß er abscheulich fett ist. In aller
Gemütsruhe teilt er uns mit, daß der Ozongürtel
der Atmosphäre in zwanzig Jahren verschwunden sein wird, so daß wir unfehlbar
von der kosmischen Strahlung geröstet werden, falls
wir bis dahin noch unter den Lebenden weilen sollten. Unfaßbare Substanzen in
der Milch treiben uns der Psychose in die Arme, und angesichts des Tempos, mit
dem die Weltbevölkerung sich vermehrt, werden bald nur noch Stehplätze frei
sein auf unserem Planeten. Dies alles mit der Habana-Zigarre in der Hand, in
wohlgesetzter, logisch einwandfreier Rede. Das Publikum unterdrückt ein Gähnen.
- Hans Magnus Enzensberger, Der Fliegende Robert. Frankfurt
am Main 1989
Zeitlupe (2)
|
||
|
||