indsbraut Max Ernst war 47 und bereits der berühmte Surrealist, Leonora Carrington war 20 und kochte vor Protest gegen ihr britisches Millionärselternhaus, als sie sich 1937 bei einem Dinner in London kennen lernten. Weder die Tatsache, dass Max Ernst verheiratet war, noch die Prozesse, die Vater Carrington gegen die „pornografische Schmiererei“ des Künstlers anstrengte, verhinderten, dass die beiden ein Paar wurden.
Wie füreinander bestimmt flogen sie aufeinander zu, tauchten noch kurz in
Paris auf, wo Ernst sich von der politpropagandistisch gewordenen Surrealistengruppe
trennte, und verschwanden in der Provinz. St. Martin de L’Ardèche war damals
ein Dorf mit 300 Einwohnern. „L’Anglaise“ und „Le Max“ machten Furore: Tagsüber
spazierten sie splitternackt zum Fluss, die Badeanzüge auf dem Kopf, abends
ließen sie sich in der Dorfspelunke voll laufen. Sie schrieben und zeichneten
zusammen, sie war seine „Windsbraut“, er war „Loplop“, das geflügelte Fabeltier
mit einem Seestern als Geschlecht. -
Silvana
Schmid (Die Zeit)
Windsbraut (2) Loplop stellt die Windsbraut vor Auf der Schwelle des einzigen, aber überwältigend großen Hauses einer aus Donnerstein errichteten Stadt liegend, halten sich zwei Nachtigallen eng umschlungen. Das Schweigen der Sonne waltet über ihrem Treiben. Die Sonne streift ihren schwarzen Rock und ihre weiße Bluse ab. Man sieht sie nicht mehr. Mit lautem Getöse bricht auf einmal die Nacht herein.
Seht diesen Mann dort: Bis zu den Knien im Wasser, steht er stolz da. Wilde Liebkosungen haben auf seinem herrlichen perlmutternen Leib ihre leuchtenden Spuren hinterlassen. Was zum Teufel treibt dieser Mann mit dem türkisfarbenen Blick, mit Lippen, die purpurrot sind von edlen Begierden? Dieser Mann hellt die Landschaft auf.
Was zum Teufel treibt diese weiße Wolke? Diese weiße Wolke entweicht zischend einem umgestürzten Korb. Sie beseelt die Natur.
Wo kommen diese beiden sonderbaren Gestalten her, die langsam die Straße entlanggehen, gefolgt von tausend Zwergen? Ist das der Mann, den man wegen seiner sanften und grimmigen Gemütsart Loplop, den obersten der Vögel, nennt? Auf seinem gewaltigen weißen Hut hat er mitten im Flug einen außergewöhnlichen Vogel mit smaragdgrünem Gefieder, mit krummem Schnabel, mit hartem Blick gestoppt. Er hat keine Angst. Er kommt aus dem Haus der Angst. Und die Frau, um deren Oberarm sich eine dünne Blutspur windet - sollte das niemand anderer als die Windsbraut sein? Pferde an allen Fenstern: »Guten Tag, Cousin, guten Tag, Cousine. Welcher günstige Wind hat euch hergeweht?«
Ob günstiger oder widriger Wind - ich stelle euch die Windsbraut vor. Wer ist die Windsbraut? Kann sie lesen? Schreibt sie fehlerlos Französisch? Aus welchem Holze ist sie geschnitzt?
Aus dem Holze ihres intensiven Lebens, ihres Geheimnisses, ihrer Poesie.
Sie hat nichts gelesen, doch sie hat alles getrunken. Sie kann nicht lesen.
Und doch hat die Nachtigall sie auf dem Stein des Frühlings sitzend lesen gesehen.
Und obwohl sie nicht laut las, hörten ihr die Tiere und die Pferde bewundernd
zu. - Max Ernst, Vorwort zu: Leonora Carrington, Das Haus der Angst. Frankfurt
am Main 2008
Windsbraut (3)
- Max Ernst
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