Walpurgisnacht, klassische   Faust tritt exaltiert hervor und fordert, von dem höchsten Anschauen ganz durchdrungen, den Besitz Helenas heftig von Mephistopheles. Dieser, der nicht bekennen mag, daß er im klassischen Hades nichts zu sagen habe, auch dort nicht einmal gern gesehen sei, bedient sich seines früheren probaten Mittels, seinen Gebieter nach allen Seiten hin und her zu sprengen. Hier gelangen wir zu gar vielen Aufmerksamkeit fordernden Mannigfaltigkeiten, und zuletzt noch die wachsende Ungeduld des Herrn zu beschwichtigen, beredet er ihn, gleichsam im Vorbeigehen auf dem Weg zum Ziele den akademisch angestellten Doktor und Professor Wagner zu besuchen, den sie in seinem Laboratorium finden, hoch glorirend, daß eben ein chemisch Menschlein zustande gekommen sei.

Dieses zersprengt augenblicks den leuchtenden Glaskolben und tritt als bewegliches, wohlgebildetes Zwerglein auf. Das Rezept zu seinem Entstehen wird mystisch angedeutet, von seinen Eigenschaften legt es Proben ab, besonders zeigt sich, daß in ihm ein allgemeiner historischer Weltkalender enthalten sei: et wisse nämlich in jedem Augenblick anzugeben, was seit Adams Bildung bei gleicher Sonn-, Mond-, Erd- und Planetenstellung unter Menschen vorgegangen sei. Wie er denn auch zur Probe sogleich verkündet, daß die gegenwärtige Nacht gerade mit der Stunde zusammentreffe, wo die Pharsalische Schlacht vorbereitet worden und welche sowohl Cäsar als Pompejus schlaflos zugebracht. Hierüber kommt er mit Mephistopheles in Streit, welcher, nach Angabe der Benediktiner, den Eintritt jener großen Weltbegebenheit zu dieser Stunde nicht will gelten lassen, sondern denselben einige Tage weiter hinausschiebt. Man macht ihm die Einwendung, der Teufel dürfe sich nicht auf Mönche berufen. Da er aber hartnäckig auf diesem Rechte besteht, so würde sich der Streit in eine unentscheid-bare chronologische Kontrovers verlieren, wenn das chemische Männlein nicht eine andere Probe seines tiefen historisch-mythischen Naturells ablegte und zu bemerken gäbe, daß zu gleicher Zeit das Fest der klassischen Walpurgisnacht hereintrete, das seit Anbeginn der mythischen Welt immer in Thessalien gehalten worden und nach dem gründlichen, durch Epochen bestimmten Zusammenhang der Weltgeschichte eigentlich Ursach an jenem Unglück gewesen. Alle vier entschließen sich, dorthin zu wandern, und Wagner, bei aller Eilfertigkeit, vergißt nicht, eine reine Phiole mitzunehmen, um, wenn es glückte, hie und da die zu einem chemischen Weiblein nötigen Elemente zusammenzufinden. Er steckt das Glas in die linke Brusttasche, das chemische Männlein in die rechte, und so vertrauen sie sich dem Eilmantel. Ein grenzenloses Geschwirre geographisch-historischer Notizen, auf die Gegenden, worüber sie hinstreifen, bezüglich, aus dem Munde des eingesackten Männleins läßt sie bei der Pfeilschnelle des Hugwerks unterwegs nicht zu sich selbst kommen, bis sie endlich beim Lichte des klaren, obschon abnehmenden Mondes zur Fläche Thessaliens gelangen. Hier auf der Heide treffen sie zuerst mit Erichtho zusammen, welche den untilgbaren Modergeruch dieser Felder begierig einzieht. Zu ihr hat sich Erichthonius gesellt, und nun wird beider nahe Verwandtschaft, von der das Altertum nichts weiß, etymologisch bewiesen ; leider muß sie ihn, da er nicht gut zu Fuße ist, öfters auf dem Arme tragen und sogar, als das Wunderkind eine seltsame Leidenschaft zu dem chemischen Männlein dartut, diesen auch auf den ändern Arm nehmen, wobei Mephistopheles seine bösartigen Glossen keineswegs zurückhält.

Faust hat sich ins Gespräch mit einer auf den Hinterfüßen ruhenden Sphinx eingelassen, wo die abstrusesten Fragen durch gleich rätselhafte Antworten ins Unendliche gespielt werden. Ein daneben in gleicher Stellung aufpassender Greif, der goldhütenden einer, spricht dazwischen, ohne das mindeste deshalb aufzuklären. Eine kolossale, gleichfalls goldscharrende Ameise, welche sich hinzugesellt, macht die Unterhaltung noch verwirrter.

 Nun aber, da der Verstand im Zwiespalt verzweifelt, sollen auch die Sinne sich nicht mehr trauen. Empusa tritt hervor, die dem heutigen Fest zu Ehren einen Eselskopf aufgesetzt hat und, sich immer umgestaltend, zwar die übrigen entschiedenen Gebilde nicht zur Verwandlung, aber doch zu unsteter Ungeduld aufregt.

Nun erscheinen, unzählbar vermehrt, Sphinxe, Greife und Ameisen, sich gleichsam aus sich selbst entwickelnd. Hin und her schwärmen übrigens und rennen die sämtlichen Ungetüme des Altertums: Chimären, Tragelaphe, Gryllen, dazwischen vielköpfige Schlangen in Unzahl. Harpyien flattern und schwanken fledermausartig in unsichern Kreisen; der Drache Python selbst erscheint im Plural, und die Stymphalischen Raubvögel, scharf geschnäbelt, mit Schwimmfüßen, schnurren einzeln pfeilschnell hintereinander vorbei. Auf einmal jedoch über allen schwebt wolkenartig ein singender und klingender Zug von Sirenen, sie stürzen in den Peneus und baden Tauschend und pfeifend ; dann bäumen sie auf im Gehölze zunächst des Flusses, singen die lieblichsten Lieder. Allererst nun Entschuldigung der Nereiden und Tritonen, welche durch ihre Konformation, ohngeachtet der Nähe des Meeres, diesem Feste beizuwohnen gehindert werden. Dann aber laden sie die ganze Gesellschaft aufs dringendste, sich in den mannigfaltigen Meeren und Golfen, auch Inseln und Küsten der Nachbarschaft insgesamt zu ergetzen; ein Teil der Menge folgt der lockenden Einladung und stürzt meerwärts. Unsere Reisenden aber, an solchen Geisterspuk mehr oder weniger gewöhnt, lassen das alles fast unbemerkt um sich her summen. Das chemische Menschlein, an der Erde hinschleichend, klaubt aus dem Humus eine Menge phosphoreszierender Atome auf, deren einige blaues, andere purpurnes Feuer von sich strahlen. Er vertraut sie gewissenhaft Wagnern in die Phiole, zweifelnd jedoch, ob daraus künftig ein chemisch Weiblein zu bilden sei. Als aber Wagner, um sie näher zu betrachten, sie stark schüttelt, erscheinen, zu Kohorten gedrängt, Pompejaner und Cäsare-aner, um zu legitimer Auferstehung sich die Beständteile ihrer Individualitäten stürmisch vielleicht wieder zuzueignen. Beinahe gelänge es ihnen, sich dieser ausge-geisteten Körperlichkeiten zu bemächtigen; doch nehmen die vier Winde, welche diese Nacht unablässig gegeneinander wehen, den gegenwärtigen Besitzer in Schutz, und die Gespenster müssen sich gefallen lassen, von allen Seiten her zu vernehmen, daß die Bestandteile ihres römischen Großtums längst durch alle Lüfte zerstoben, durch Millionen Bildungsfolgen aufgenommen und verarbeitet worden.

Der Tumult wird dadurch nicht geringer, allein gewissermaßen auf einen Augenblick beschwichtigt, indem die Aufmerksamkeit zu der Mitte der breit' und weiten Ebene gerichtet wird. Dort bebt die Erde zuerst, bläht sich auf, und ein Gebirgsreihen bildet sich aufwärts bis Scotusa, abwärts bis an den Peneus, bedrohlich sogar, den Fluß zu hemmen. Haupt und Schultern des Enceladus wühlen sich hervor, der nicht ermangelte, unter Meer und Land heranschleichend, die wichtige Stunde zu verherrlichen. Aus mehreren Klüften lecken flüchtige Flammen; Naturphilosophen, die bei dieser Gelegenheit auch nicht ausbleiben konnten, Thaies und Anaxagoräs, geraten über das Phänomen heftig in Streit, jener dem Wasser wie dem Feuchten alles zuschreibend, dieser überall geschmolzene, schmelzende Massen erblickend, perorieren ihre Solos zu dem übrigen Chorgesause, beide führen den Homer an, und jeder ruft Vergangenheit und Gegenwart zu Zeugen. Thaies beruft sich vergebens auf Spring- und Sündfluten mit didaktisch-wogendem Selbstbehagen; Anaxagoras, wild wie das Element, das ihn beherrscht, führt eine leidenschaftlichere Sprache: er weissagt einen Steinregen, der denn auch alsobald aus dem Monde herunterfällt. Die Menge preist ihn als einen Halbgott, und sein Gegner muß sich nach dem Meeresufer zurückziehen.

Noch aber haben sich Gebirgsschluchten und Gipfel nicht befestigt und bestätigt, so bemächtigen sich schon aus weit umherklaffenden Schlünden hervorwimmelnde Pygmäen der Oberarme und Schultern des noch gebeugt aufgestemmten Riesen und bedienen sich deren als Tanz- und Tummelplatz, inzwischen unzählbare Heere von Kranichen Gipfelhaupt und Haare, als wären es undurchdringliche Wälder, kreischend umziehen und vor Schluß des allgemeinen Festes ein ergetzliches Kampfspiel ankündigen.

So vieles und noch mehr denke sich, wem es gelingt, als gleichzeitig, wie es sich ergibt. Mephistopheles hat indessen mit Enyo Bekanntschaft gemacht, deren grandiose Häßlichkeit ihn beinahe aus der Fassung gebracht und zu unhöflichen, beleidigenden Interjektionen aufgeschreckt hätte. Doch nimmt er sich zusammen, und in Betracht ihrer hohen Ahnen und bedeutenden Einflusses sucht er ihre Gunst zu erwerben. Er versteht sich mit ihr und schließt ein Bündnis ab, dessen offenkundige Bedingungen nicht viel heißen wollen, die geheimen aber desto merkwürdiger und folgereicher sind. Faust an seinem Teile ist an den Chiron getreten, der als benachbarter Gebirgsbewohner seine gewöhnliche Runde macht. Ein ernst-pädagogisches Gespräch mit diesem Urhofmeister wird, wo nicht unterbrochen, doch gestört durch einen Kreis von Lamien, die sich zwischen Chiron und Faust unablässig durchbewegen; Reizendes aller Art, blond, braun, groß, klein, zierlich und stark von Gliedern, jedes spricht oder singt, schreitet oder tanzt, eilt oder gestikuliert, so daß, wenn Faust nicht das höchste Gebild der Schönheit in sich selbst aufgenommen hätte, er notwendig verführt werden müßte. Auch Chiron indessen, der Alte, Unerschütterliche, will dem neuen sinnigen Bekannten die Maximen klarmachen, wornach er seine schätzbaren Helden gebildet, da denn die Argonauten hererzählt werden und Achill den Schluß macht. Wenn aber der Pädagog auf das Resultat seiner Bemühungen gelangen will, so ergibt sich wenig Erfreuliches; denn sie leben und handeln gerade fort, als wenn sie nicht erzogen wären.   - Goethe, Pläne zu Faust II




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