nempfindlichkeit   Ruffins Haar fängt an grau zu werden, aber er ist noch rüstig, sein Aussehen ist frisch, sein Auge lebhaft, er kann noch zwanzig Jahre leben; er ist fröhlich, lustig, ungezwungen, sorglos; er lacht aus voller Kehle, oft ganz für sich allein und ohne Grund; er ist zufrieden mit sich, den Seinigen, seinem bescheidenen Auskommen; er sagt frei heraus, daß er glücklich ist. Er verliert seinen einzigen Sohn, einen Jüngling, der zu großen Hoffnungen berechtigte und vielleicht einmal der Stolz der Familie geworden wäre; Ruffin überläßt andern die Sorge, um ihn zu weinen; er sagt: »Mein Sohn ist gestorben, das wird seine Mutter nicht überleben«, und tröstet sich damit. Er hat keine Leidenschaften, er besitzt weder Freund noch Feind; niemand ist ihm zuwider, jeder ist ihm recht, alles sagt ihm zu; er spricht mit dem, den er zum erstenmal sieht, mit derselben freimütigen Vertraulichkeit, wie mit denen, die er alte Freunde nennt, und erzählt ihm bald seine schlechten Witze und Histörchen; man kann ihn begrüßen oder sich verabschieden, ohne daß er es beachtet; hat er jemandem den Anfang einer Geschichte berichtet, so erzählt er das Ende ruhig dem nächsten, der sich zu ihm setzt. - (bru)

Unempfindlichkeit (2)  Die Gleichgültigkeit bedeutet für die Seele das gleiche wie die Ruhe für den Körper, und die Erstarrung bedeutet für den Körper das gleiche wie die Unempfindlichkeit für die Seele. Die zwei letzten Modifikationen sind Extreme der zwei ersten und deshalb beide gleich schädlich.

Die Gleichgültigkeit vertreibt aus dem Gemüt die ungestümen Bewegungen, die phantastischen Wünsche, die blinden Neigungen. Die Unempfindlichkeit verschließt der zärtlichen Freundschaft, der edlen Dankbarkeit, den gerechtesten und rechtmäßigsten Gefühlen den Zugang zum Gemüt. Indem die Gleichgültigkeit die menschlichen Leidenschaften aufhebt oder, besser gesagt, der Leidenschaftslosigkeit entspringt, sorgt sie dafür, daß die Vernunft ohne Rivalen ihre Macht freier ausübt. Die Unempfindlichkeit dagegen macht aus dem Menschen, indem sie alles Menschliche aufhebt, ein wildes und isoliertes Wesen, das die meisten Bande zerrissen hat, die ihn mit der übrigen Welt verknüpft haben. Auf Grund der Gleichgültigkeit gleicht die ruhige und stille Seele schließlich einem See, dessen Wasser — ohne Gefälle, ohne Strömung und gegen Winde geschützt — keine eigene Bewegung hat und nur die Bewegung annimmt, die ihm das Ruder des Schiffers gibt. Wird die Seele aber durch die Unempfindlichkeit gelähmt, so gleicht sie dem Eismeer, das eine ungeheure Kälte bis in seine Tiefen erstarren ließ und dessen Oberfläche dadurch so hart geworden ist, daß die Eindrücke von allen Gegenständen, die sie treffen, auf der Stelle verschwinden, ohne sich weiter verbreiten zu können und ohne die geringste Erschütterung oder die leiseste Störung zu verursachen.

Die Gleichgültigkeit bringt Weise hervor, die Unempfindlichkeit dagegen Ungeheuer. Sie kann nicht das ganze Gemüt des Menschen erfüllen, da ein beseeltes Wesen unbedingt Gefühl haben muß; doch kann sie einige Stellen des Gemüts überwältigen, und das sind gewöhnlich die Stellen, die eine Beziehung zur Gesellschaft haben. Für das, was uns persönlich berührt, behalten wir immer unsere Empfindlichkeit, sie nimmt sogar um soviel zu, wie die Empfindlichkeit, die wir den anderen gegenüber haben sollten, abnimmt. Diese Wahrheit lehren uns die Großen oft. Kommt in der Region der Stürme, wohin ihre Selbsterhebung sie versetzt, plötzlich ein Gegenwind auf, dann sehen wir gewöhnlich die Tränen dieser Halbgötter reichlich fließen, obgleich sie Augen aus Erz zu haben scheinen, wenn sie das Unglück derjenigen betrachten, die das Schicksal ihnen unterstellt, die Natur ihnen gleichgestellt und die Tugend vielleicht über sie gestellt hat.

Man glaubt fast allgemein, Zenon und die Stoiker, seine Schüler, hätten sich zur Unempfindlichkeit bekannt, und ich gebe zu, daß man dies glauben muß, wenn man annimmt, sie hätten konsequent gedacht. Aber das hieße ihnen zuviel Ehre erweisen — besonders in diesem Punkt. Sie sagten, der Schmerz sei kein Übel — was anzudeuten scheint, daß sie irgendwelche Mittel erfunden hatten, um sich unempfindlich gegen ihn zu machen, oder daß sie sich dessen wenigstens rühmten. Unsinn! Da sie sich über die Zweideutigkeit der Ausdrücke lustig machten, wie ihnen Cicero in seiner zweiten tuskulanischen Rede vorwirft, und da sie Zuflucht zu jenen leeren Spitzfindigkeiten nahmen, die noch immer nicht aus den philosophischen Schulen verbannt sind, so bewiesen sie ihr Prinzip folgendermaßen:

»Ein Übel ist nur das, was Schande macht, und das, was ein Verbrechen ist; doch der Schmerz ist kein Verbrechen, ergo ist der Schmerz kein Übel. Trotzdem«, fügten sie hinzu, »ist er verwerflich, weil er etwas Trauriges, Hartes, Verdrießliches, Naturwidriges und Schwererträgliches ist.« Ein Schwall von Worten, der genau das gleiche bedeutet wie das, was wir unter Übel verstehen, falls es auf Schmerz bezogen wird. Man ersieht daraus ganz klar, daß sie den Namen zwar verwarfen, aber die Bedeutung anerkannten, die man mit ihm verknüpft, und daß sie sich nicht rühmten, unempfindlich zu sein. Als Poseidonios bei seinem Gespräch mit Pompejus in den Augenblicken, da der Schmerz am heftigsten ausbrach, rief: »Nein, Schmerz, laß ab; so lästig du auch bist, so werde ich dennoch nie zugeben, daß du ein Übel bist« — da wollte er zweifellos nicht sagen, daß er nicht litte, sondern daß das Leiden, das er fühlte, kein Übel wäre. Ein alberner Scherz, der ein schwaches Linderungsmittel für seinen Schmerz war, obwohl er seinem Stolz als Nahrung diente. ...

Das Übermaß des Schmerzes führt manchmal zur Unempfindlichkeit — vor allem in den ersten Momenten. Das Gemüt, zu heftig betroffen, wird durch die Größe seiner Verletzung gleichsam betäubt; es bleibt zuerst unbewegt, und die Empfindung ertrinkt, wenn man so sagen darf, für einige Zeit in der Flut der Leiden, von der die Seele überwältigt wird. Doch jene Art von Unempfindlichkeit, die manche Leute inmitten der größten Leiden zeigen, ist meistens nur äußerlich. Das Vorurteil, die Gewohnheit, der Stolz oder die Furcht vor Schande verhindern das Ausbrechen des Schmerzes und schließen ihn völlig im Gemüt ein. Wir wissen aus der Geschichte, daß in Sparta die Jünglinge am Fuß der Altäre bis aufs Blut und manchmal sogar zu Tode gepeitscht wurden, ohne daß ihnen das leiseste Stöhnen entfuhr. Man darf nicht glauben, daß solche Leistungen bloß der Standhaftigkeit der Spartaner vorbehalten waren. Die Barbaren und die Wilden, mit denen dieses so hoch gepriesene Volk mehr als einen Charakterzug gemeinsam hatte, zeigten oft eine ähnliche Stärke oder, besser gesagt, Unempfindlichkeit. Heute sind im Land der Irokesen die Frauen stolz darauf, daß sie ihre Kinder zur Welt bringen, ohne zu klagen, und es gilt unter ihnen für eine sehr schwere Beleidigung, wenn jemand sagt: »Du hast geschrien, als du in den Wehen lagst.« So groß ist die Macht des Vorurteils und der Sitte! Ich glaube, daß dieser Brauch nicht ohne weiteres nach Europa verpflanzt werden kann.

So groß auch die Begeisterung ist, welche die Französinnen für neue Moden aufbringen, so bezweifle ich doch, daß die Mode, Kinder auf die Welt zu bringen, ohne zu schreien, jemals Anklang unter ihnen finden wird. - (enz)

Unempfindlichkeit (2)  Ohne irgendeinen ersichtlichen Grund suchte er eines Nachts sogar die Häuser in Pratofungo heim, die Strohdächer hatten, und warf brennendes Pech darauf. Die Aussätzigen haben die Eigenheit, daß sie keinen Schmerz empfinden, wenn sie versengt werden, und hätten die Flammen sie im Schlaf überrascht, wären sie gewiß nicht mehr aufgewacht. Doch als der Visconte fortgaloppierte, hörte er, wie die Weise einer Geige im Dorfe aufklang. Die Einwohner von Pratofungo waren noch munter, da sie von ihren Spielen in Anspruch genommen waren. Sie alle erlitten Brandwunden, aber empfanden keinen Schmerz und hatten sogar ihren Spaß daran, wie das ihrem Geisteszustände entsprach. Die Feuersbrunst löschten sie schnell; auch ihre Häuser nahmen durch die Flammen nur wenig Schaden, vielleicht weil auch sie durch den Aussatz infiziert waren. - (vis)
 
Gleichgültigkeit Empfindung
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Dummheit