orgen,
seltsamer
In der Gegend von Shade Creek und Thanatoid
Village ragt dieser Morgen aus einer langen Tradition seltsamer Morgen heraus.
Nicht nur, daß die gesamte Bevölkerung in der Nacht zuvor tatsächlich geschlafen
hatte - sie erwachte nun auch von den zirpenden harmonischen Klängen einer Musik,
die gleichzeitig aus Armbanduhren, Schaltuhren und PCs drang und vor langer
Zeit scheinbai nur zu diesem Zweck auf Soundchips graviert worden war, welche
während eines obskuren Scharmützels im Silikonkrieg als Bestandteil eines außergerichtlichen
Vergleichs mit der seit jeher fragwürdigen Handelsgesellschaft «Tokkata &
Fuji» auf den Markt geworfen und von Takeshi Fumimota vertrieben worden waren
und die nun synchron und vierstimmig die ersten Takte von Bachs «Wachet auf»
spielten. Und zwar nicht mit dem üblichen elektronischen Gefiepe, sondern mit
Inbrunst, und das war etwas, das diese geplagten
Seelen zu würdigen wußten. Sie blinzelten, sie fuhren herum, und ihre Augen
suchten, oft zum erstenmal, Kontakt mit denen anderer Thanatoiden. Das war noch
nie dagewesen. Es war, als wäre in einem Massenprozeß nach generationenlanger
Verschleppung plötzlich ein Urteil ergangen. Wer erinnerte sich noch? Wer erinnerte
sich eigentlich nicht? Was war denn ein Thanatoide am Ende des langen, gräßlichen
Tages anderes als Erinnerung? Und so, zu den Klängen einer der schönsten Melodien,
die Europa je hervorgebracht hat - deren Rhythmus allerdings den Schwung eines
Disco-Beats hatte, welcher selbst dem schwermütigsten Thanatoiden, und sei es
auch noch so kurz, den Glauben an eine Auferstehung zu geben vermochte-, erwachten
sie. Die Thanatoiden wachten auf- -
Thomas Pynchon, Vineland. Reinbek bei Hamburg 2015
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