Thanatoide    Als er zu der Nische zurückkehrte, mußte er feststellen, daß sein Platz in den türkisen Schatten von einem jungen, ihm unbekannten Burschen besetzt war. Doch damit nicht genug: Er hatte sich auch über Takeshis Spareribs-Galaxie hergemacht, die rauchig und duftend und in einer heimtückischen Sauce, welche nur daraufwartete, die Schleimhäute eines weiteren arglosen Gastes anzufallen, soeben serviert und bereits zur Hälfte vertilgt worden war. Saucenkleckse und ein halbes Dutzend leere Bierflaschen waren über den Tisch verteilt. «Hallo!» Dieser nach Spät-Teenager aussehende Mensch, der noch kleiner war als Takeshi, sprang auf, mit laufender Nase und feucht glänzenden Augen, und stellte sich als Ortho Bob Dulang vor. Außerdem erfuhr Takeshi, daß er nicht nur per Anhalter unterwegs, sondern auch Thanatoide war.

«Die junge Dame hier hat gemeint, ich sollte schon mal anfangen. Hier, Chef, ich hoffe, es stört sie nicht.» DL sah die beiden mit einem freundlichen und, wie Takeshi fand, durch und durch falschen Lächeln an. «Thanatoide kriegen nicht oft richtiges Essen wie zum Beispiel Spareribs zu sehen», fuhr Ortho Bob fort, «weil Essen bei uns nicht so wichtig genommen wird.»

«Das erklärt einiges. Dürfte ich fragen...»

«Was ein Thanatoide ist? Eigentlich eine Abkürzung von <thanatoide Persönlichkeit). ‹Thanatoid› bedeutet ‹wie tot, nur anders›.»

«Verstehst du ein Wort von alldem?» fragte Takeshi DL.

«Soviel ich weiß, leben sie gemeinsam in Thanatoiden-Mietskästen oder Thanatoiden-Häusern in Thanatoiden-Dörfern. Die Wohnungen sind ziemlich schlicht und spärlich möbliert. Sie legen wenig Wert auf Stereoanlagen, Bilder, Teppiche, Möbel, Nippes, Geschirr, Besteck und so weiter, weil das alles ja sowieso nebensächlich ist. Ist das soweit richtig, OB?»

«Aaer ir ichen iel orer Otsche», stieß der Junge an einem großen Bissen von Takeshis Spareribs vorbei hervor.

«<Aber wir sitzen viel vor der Glotze>», übersetzte DL. Während sie auf die Informationen warteten, die sie brauchten, um in der Welt der noch Lebenden ihre Bedürfnisse zu stillen und ihre Ziele zu verfolgen, verbrachten Thanatoide, wenn sie nicht schliefen, zumindest einen Teil jeder Stunde vor dem Fernseher. «Es wird nie eine Thanatoiden-Familienserie geben», lautete Ortho Bobs zuversichtliche Prognose, «weil man da bloß Thanatoide zu sehen bekäme, die vor der Glotze sitzen.» Und selbst das hätte für einen von Familienserienentzug geplagten Fernsehkonsumenten noch von geringfügigem Interesse sein können, hätten die Thanatoiden nicht bereits lange, bevor das Füllhorn der Video-Dauerberieselung ausgegossen worden war, gelernt, sich hier, wie auch zuvor schon in anderen Bereichen, auf Gefühle zu beschränken, die ihnen halfen, alle Hindernisse auf ihrem weiteren Weg in den Tod zu überwinden. Unter diesen Gefühlen lag Verbitterung mit Abstand an erster Stelle, denn schließlich konnten Thanatoide aufgrund ihrer persönlichen Geschichte und der Gesetze karmischer Schuld und Sühne wenig anderes empfinden als Rachsucht.  - Thomas Pynchon, Vineland. Reinbek bei Hamburg 2015

Menschen, wirkliche Fernsehen

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