Mahlzeit, einsame  Man verdamme nicht, wem zuweilen eine solitäre Mahlzeit mundet. Er ist weder ein lasterhafter noch unbedingt ein unglücklicher Mensch. Viele Jahre lang liebte ich selbst eine solche Ernährung nach Einsiedlerart - und auch heute koste ich noch ab und zu davon. Es ist etwas Erlesenes, ein Luxus, eine Eitelkeit, ein Abenteuer der Welt zum Hohn, von dreister Unabhängigkeit, bizarr, eine Grille, ein tiefes, finsteres Ergötzen. Man ißt, kostet, denkt, wählt aus, beschleunigt, verweilt, tändelt, verschmäht, blinzelt sich zu, hat sein Wohlgefallen, freut sich, zerstreut sich; aber, um all das zu Wege zu bringen, braucht man die Hilfe eines Lokals, das einem zugetan ist: nicht zu dicht besetzt, kollaborierende Kellner, einen nicht zu winzigen oder verächtlichen Tisch in einer Ecke; eine solche Mahlzeit kann eine wirkliche Stärkung sein, die Selbstachtung heben und eine nicht unnütze Aggressivität steigern; sie gibt uns das seltene und schlaue Gefühl, unser eigener Gast und also aus gutem Grund großzügig und nachsichtig mit uns selbst zu sein, da wir in einer Person als Gastgeber und Gast am selben Tisch sitzen.  - Giorgio Manganelli, Lob des Essens. Nach (man)

Mahlzeit, einsame  (2)  Allein zu essen (solipsismus convictorii) ist für einen philosophierenden Gelehrten ungesund; nicht Restauration, sondern (vornehmlich wenn es gar einsames Schwelgen wird) Exhaustion; erschöpfende Arbeit, nicht belebendes Spiel der Gedanken. Der genießende Mensch, der im Denken während der einsamen Mahlzeiten an sich selbst zehrt, verliert allmählich die Munterkeit, die er dagegen gewinnt, wenn ein Tischgenosse ihm durch seine abwechselnde Einfälle neuen Stoff zur Belehrung darbietet; welchen er selbst nicht hat ausspüren dürfen.    - Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (zuerst 1798/1800)

Mahlzeit, einsame  (3)  

Mahlzeit, einsame  (4)  Dies ist der stärkste Einwand gegen die Lebeweise des Hagestolz: er nimmt einsam sein Essen. Einsam zu speisen macht leicht hart und roh. Wer es gewohnt ist, muß spartanisch leben, um nicht zu verkommen. Einsiedler haben, sei's nur darum, sich frugal beköstigt. Denn dem Essen wird nur in der Gemeinschaft sein Recht; es will geteilt und ausgeteilt sein, wenn es anschlagen soll. Gleichviel wem: früher bereicherte ein Bettler am Tisch jede Mahlzeit. Aufs Teilen und aufs Geben kommt alles an, nichts auf soziables Gespräch in der Runde. Erstaunlich ist aber wiederum, daß Geselligkeit kritisch wird ohne Speisen. Bewirtung nivelliert und verbindet. Der Graf von Saint-Germain blieb nüchtern vor vollen Tafeln und schon auf diese Weise Herrscher im Gespräch. Wo aber jeder einzelne leer ausgeht, da kommen die Rivalitäten mit ihrem Streit.   - (ben)

Mahlzeit, einsame  (5)  An jedem anderen Ort der Welt wäre es ein Sakrileg gewesen, zur Rijsttafel etwas anderes als Wein zu trinken. Aber hier in Holland bedeutete es Ketzerei, nicht ein paar Gläser kühles Bier dazuzubestellen. Das zeremonielle Entzünden der Kerzen unter den Tellerchen der Rijsttafel deprimierte ihn etwas. Es war das charakteristische Stimmungstief, das einen befällt, wenn man allein essen muß. Angesichts dieses gefährlichen Gemütszustands hilft nur eines: reichlich und erstklassig essen! In fünf Minuten führt der Magen einen überzeugenden Kampf mit dem Gehirn, und wie immer bei solchen Kämpfen siegt die praktische über die theoretische Intelligenz. Die Zunge übernimmt die Vermittlung zwischen Fleisch und Geist und süftet ihren Liebespakt mit der Perfektion einer graduierten Kupplerin. Die Erdnuß bestimmte den Geschmack der Saucen, entweder als Beilage oder als direkte Zutat. Die abwechslungsreiche Palette von Geschmortem und Gebratenem paßte sich, abgemildert durch die Saucen, dem weißen und neutralen Ruhebett des indischen Langkornreises an. Und wenn die Zunge angesichts der Menge der Gewürze oder der Intensität der Saucen Anzeichen von Reizung zeigte, war sie nach einem halben Glas dieses Bieres wieder frisch gewaschen und gestärkt, um ihre magische Entdeckungsreise fortzusetzen.   - Manuel Vázquez Montalbán, Carvalho und die tätowierte Leiche. Berlin 2014 (zuerst 1976)
 
 

Mahlzeit Einsamkeit

 

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