nopf
Mein Herz klopfte, als ich die Tür öffnete und eintrat. Ich
wusste, dass Tante Rahab den Zimmerschlüssel an einem Haken hinter dem Spiegel
hängen hatte. Ich ertastete ihn im Dunklen und schloss die Tür von innen ab.
Die Vorhänge waren zugezogen. Tante Rahab lag mit entspanntem Gesicht auf dem
frisch gemachten Bett, die Arme neben dem Körper. Ich nahm den kleinen Hocker,
auf dem sie immer vor dem Spiegel gesessen hatte, stellte ihn neben das Bett
und knipste die Nachttischlampe an. Sie sah schön aus. Ihr Haar war frisch gebürstet.
Mir stiegen Tränen in die Augen, und ich musste mich für einen Moment abwenden.
Dann setzte ich mich neben sie. Man hatte an der Bluse nichts verändert. Immer
noch waren die oberen Knöpfe offen, die Knopfleiste aber geschlossen. Wieder
schnürte mir das Gefühl, sie für immer verloren zu haben, die Kehle zu. Niemals
wieder würde ich sie sehen, sie hören oder umarmen. Niemals wieder würde ich
mich freuen können. Von nun an war ich durch meine Sündhaftigkeit den Grausamkeiten
der Welt hilflos und allein ausgesetzt. Niemand würde mich mehr trösten. Alles,
was vor mir lag, war Endlichkeit, Sterblichkeit
und Schmerz. Dann sah ich, dass sich der entscheidende
Knopf bei ihrem Sturz halb durch das Knopfloch geschoben haben musste, wo er
jetzt festhing. Ich schloss die Augen etwas, sodass alles nur noch schemenhaft
zu erkennen war. Vorsichtig streckte ich meine Hand aus. Ich wollte nur sehen,
ob ich überhaupt bis zu ihm hinreichte. Tatsächlich konnte ich den Knopf mit
den Fingerkuppen berühren. Ich zog die Hand zurück, schloss die Augen und streckte
sie erneut, nun ohne Hinzusehen, aus. Wieder berührte die Kuppe meines Zeigefingers
den querstehenden Knopf. Ich drückte leicht gegen ihn. Der Knopf richtete sich
unter meinem Finger nach oben auf. Ich erhöhte den Druck, der Knopf erhob sich
weiter senkrecht und rutschte durch das Knopfloch nach innen. Die Bluse klaffte
einige Zentimeter auf. Noch immer hatte ich die Augen halb geschlossen. Mein
Herz raste. Ich beugte mich weiter nach vorn. Die Augen jetzt wieder zusammengekniffen,
fuhr ich an der Knopfleiste nach unten, öffnete schnell und doch wie nebenbei
die zwei letzten Knöpfe und mit einem Ruck, der fast zufällig hätte erscheinen
können, zog ich die Bluse in der Bewegung, mit der ich meine Hand zurücknahm,
auseinander. Ich legte die Hände flach auf meine Beine und holte noch einmal
Luft. Dann öffnete ich die Augen. Ein Schimmer der Lampe fiel über Tante Rahabs
weiße Haut. Da lagen sie, entblößt, rund und weich, noch viel weicher, noch
viel größer, als ich sie mir jemals vorgestellt hatte. Sie waren groß und rund
und standen nebeneinander, und ich sah nicht nur den Schatten eines Warzenansatzes,
sondern die ganze Warze, den braunen Hof. Ich sah alles und ließ mich überfluten
von den Wellen, den endlosen Wellen, den großen, weichen, weißen, runden Wellen,
die über mir zusammenschlugen. Ich sprang von meinem Stuhl. Nicht mit beiden
Händen hätte ich eine ihrer Brüste umfassen können. Mit nichts hätte man diese
Brüste umfassen können, mit nichts vergleichen.
Mein Atem wurde unruhig. Ich fühlte einen Schwindel aufsteigen. Ich fühlte die
Endgültigkeit, die Einmaligkeit, den Abschied und das Unwiderrufliche. In großen
Wogen hatten sich Tante Rahabs Brüste vor mir aufgebäumt, ein Strudel, ein Sog,
ein Spalt, Hügel und Brandung. Wieder und wieder
- durchlief mich ein Zittern, ähnlich wie Tante
Rahabs Zittern kurz vor ihrem Tod. Doch ich hatte keine Angst mehr vor dem Tod.
Jetzt nicht mehr. Ich rannte zur Tür, schloss auf, lief über den Flur, an der
Küche vorbei, aus der Wohnung, rannte die Treppen hinunter aus dem Haus. Ich
rannte in die Nacht und schrie, schrie unartikuliert wie damals an der Mauer,
nur dass diesmal alles einen Sinn ergab. Ich war der falsche Prophet, der Sündenbock
des Herrn, dem in seinem kurzen Leben nichts anderes vergönnt gewesen war, als
den Weg der Sündhaftigkeit zu gehen. Ein anderer Mensch war für mich gestorben,
hatte sich für mich hingegeben. Ich drehte mich um mich selbst. Ich riss mir
das Hemd auf. Ich schrie und schrie. Und dann geschah es. Es geschah in der
Jacobstreet, nicht weit von der Brooklyn Bridge in Lower Manhattan. Ich sah
keine Leiter und keine Engel, und ich sah auch das weiße Ford Coupé nicht, das
mich rammte und quer über die Straße schleuderte. Aber ich sah Gott.
Und Gott erschien in einem Lichterkranz und öffnete selbst die Bluse und sagte: »Komm, Plemenik, komm zu mir!«
Wenn man von Gottes Diktum ausgeht, dass »kein Mensch leben wird, der mich sieht« (Exodus 33:20), ist es nur logisch, dass das Sehen Gottes mit dem eigenen Tod zusammenfallen, der Tod eigentlich dem Ansichtig-Werden Gottes sogar vorausgehen muss. Da dieses »Sehen Gottes« sich vor allem auf Gottes Antlitz bezieht, kann diese Offenbarung dennoch stattfinden, wenn es etwas gibt, das den Betrachter vom Angesicht Gottes ablenkt, was in diesem Falle durch das Öffnen der Bluse geschieht. Es wäre profan anzunehmen, dass Gott die Bluse öffnet (das amerikanische Original ist mit seiner Verwendung des Begriffs shirt ohnehin ambivalenter), um den Sterbenden mit dem Anblick seines Busens vom todbringenden Antlitz abzulenken. Vielmehr offenbart sich für Ethan in der die Bluse öffnenden Bewegung das Angenommensein durch Gott, dieses Gefühl, das er vergeblich in den von seinem Sexualtrieb bestimmten Handlungen zu erlangen, gar zu erzwingen versucht hatte. Das Bilderverbot richtet sich nicht zuletzt gegen die einseitige und starre Festlegung Gottes, der die performative Bewegung gegenübergestellt wird.
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