lavierspielerin
Das Glas steht, wo es steht. An seinem Grunde hängt noch ein
isolierter Wassertropfen und ruht aus, bevor er sich in Dunst verflüchtigt.
Vorhin hat gewiß noch ein Schüler einen Schluck aus dem Glas getan. Mantel-
und Jackentaschen durchstöbert Erika nach einem Taschentuch, das sie auch bald
findet. Ein Produkt der Grippe- und Schnupfenzeit. Erika ergreift das Glas mit
dem Taschentuch und bettet eins ins andere. Das Glas mit seinen unzähligen Abdrücken
von ungeschickten Kinderhänden wird ganz vom Tuch verhüllt. Das so bemäntelte
Glas legt Erika auf den Boden und tritt mit dem Absatz kräftig drauf. Es splittert
gedämpft. Dann wird das bereits verletzte Wasserglas noch einige Male gestampft,
bis es zu einem zwar splittrigen, doch nicht formlosen Brei geworden ist. Zu
klein dürfen die Splitter nicht geraten! Sie sollen noch ordentlich stechen
können. Erika nimmt das Tuch samt dessen scharfkantigem Inhalt vom Boden auf
und läßt die Splitter sorgsam in eine Manteltasche gleiten. Das billige, dünnwandige
Glas hat besonders gemeine und scharfe Bruchstücke hinterlassen. Das sirrende
Schmerzgewimmer des Glases ist von dem Tuch abgetötet worden.
Erika hat den Mantel deutlich wiedererkannt, sowohl an der kreischenden Modefarbe
als an der wieder aktuellen Minikürze. Dieses Mädchen hat sich zu Beginn der
Probe noch durch innige Anbiederungsversuche an Walter Klemmer, der turmhoch
über ihm steht, hervorgetan. Erika möchte prüfen, womit sich dieses Mädchen
spreizen wird, hat es erst eine zerschnittene Hand. Sein
Gesicht wird sich zu einer häßlichen Grimasse verzerren, in der keiner die ehemalige
Jugend und Schönheit wiedererkennen wird. Erikas Geist wird über die Vorzüge
des Leibes siegen. -
Elfriede Jelinek, Die Klavierspielerin. Reinbek bei Hamburg 1989 (zuerst 1983)
Klavierspielerin
(2) Bevor er ihr Gesicht richtig sehen
konnte, hypnotisierten ihn ihre Schuhe, die so sehr Männerschuhe waren,
daß kein Rock über diesen Umstand hinwegzutäuschen vermochte.
Quadratisch und ohne Absätze, mit unnütz femininen Schuhbändern. Was
dann kam, war steif und ausladend zugleich, eine dicke Frau, in ein
unbarmherziges Korsett gezwängt. Aber Berthe Trepat war nicht dick, man
konnte sie kaum robust nennen. Sie mußte Ischias oder einen Hexenschuß
haben, etwas, das sie zwang, sich en bloc zu bewegen, erst frontal, um
unter Anstrengung zu grüßen, dann im Profil, um sich zwischen Hocker und
Klavier zu schieben und sich geometrisch abzuwinkein, bis sie saß. Von
da drehte die Künstlerin jäh den Kopf und grüßte erneut, obwohl keiner
mehr applaudierte. »Oben muß irgendeiner sein, der die Fäden zieht«,
dachte Oliveira. Er mochte Marionetten und Automaten, und er erhoffte
sich Wunder vom schicksalhaften Synkretismus. Berthe Trepat blickte noch
einmal ins Publikum. Ihr rundes, wie mit Mehl bestäubtes Gesicht schien
mit einemmal alle Sünden des Vollmonds auf sich zu vereinigen, und der
zinnoberrote Kirschmund öffnete sich, bis er die Form einer ägyptischen
Barke annahm. Wieder im Profil, betrachtete ihre kleine Papageienschnabelnase
für einen Augenblick die Tasten, während die Hände, wie zwei
zerknautschte Lederhandschuhe, von c zu h griffen. Es erklangen die
zweiunddreißig Akkorde des ersten diskontinuierlichen Satzes. Zwischen
dem ersten und dem zweiten vergingen fünf Sekunden, zwischen (fern
zweiten und dritten fünfzehn Sekunden. Vor dem fünfzehnten Akkord hatte
Rose Bob eine Pause von fünfundzwanzig Sekunden verordnet. Oliveira, der
im ersten Augenblick den schönen webernschen Gebrauch, den Rose Bob von
den Pausen machte, geschätzt hatte, merkte, daß Rückfälligkeit diesen
rasch abwertete. Zwischen den Akkorden 7 und 8 wurde Husten laut,
zwischen dem 12. und dem 13. strich jemand energisch ein Streichholz an,
zwischen dem 14. und dem 15. hörte man deutlich ein »Ah, merde alors!«,
Ausruf eines jungen Mädchens mit blondem Haar. Beim 20. Akkord packte
eine von den sehr betagten Damen, ein wahres Essiggemüse, heftig ihren
Regenschirm und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, das der Akkord 21
barmherzig plattwalzte. Oliveira sah amüsiert auf Berthe Trépat und
argwöhnte, daß die Pianistin sie alle aus den sogenannten Augenwinkeln
eingehend prüfte. Aus besagten Augenwinkeln ließ das kleine hakennasige
Profil Berthe Trépats einen himmelgrauen Blick durchsickern, und
Oliveira kam der Gedanke, daß die Unglückliche vielleicht gerade den
Erlös aus den verkauften Eintrittskarten überschlug. Beim 23. Akkord
erhob sich empört ein Herr mit Rundglatze, und nachdem er geblasen und
geschnaubt hatte, verließ er den Saal, mit den Absätzen in die von Rose
Bob konfektionsmäßig hergestellten acht Sekunden Stille knallend. Vom
24. Akkord an wurden die Pausen immer kürzer, und vom 28. zum 32.
bildete sich ein Rhythmus aus, der etwas von einem Trauermarsch hatte,
was nicht reizlos war. Berthe Trepat nahm die Schuhe von den Pedalen,
legte die linke Hand in den Schoß und begann mit dem zweiten Satz.
Dieser Satz bestand nur aus vier Takten, und jeder Takt aus drei
gleichwertigen Noten. Der dritte Satz bestand hauptsächlich darin, daß
von den äußeren Tasten chromatisch in die Mitte der Tastatur gespielt
und dieser Vorgang von innen nach außen wiederholt werden mußte, und das
alles unter unaufhörlichen Triolen und anderen Verzierungen. Zu einem
bestimmten, durch nichts vorherzusehenden Zeitpunkt hörte die Pianistin
auf zu spielen, erhob sich brüsk und verbeugte sich in einer fast
herausfordernden Art, in der aber, wie es Oliveira schien, etwas wie
Unsicherheit und sogar Angst auszumachen war. Ein Pärchen applaudierte
lärmend. Oliveira merkte, daß auch er applaudierte, ohne zu wissen warum
(und als er es wußte, wurde er wütend und hörte auf zu
klatschen). - (ray)