ersteinerung
Ich hatte mich einigermaßen darauf eingestellt, die
Folter des Modellstehens so gut wie schweigend zu erleiden. Ich ergab mich der
Buße, für eine lange Weile versteinern zu müssen und suchte über eine Unbeweglichkeit
(die mir bisweilen wie eine Ewigkeit vorkam) hinwegzukommen, indem ich mir im
Geiste die Fragen, die Abwandlungen, die Zweifel, den Mißmut über Mißglücktes
und die Entscheidungen vorstellte, die im Innersten meiner Bildhauerin vor sich
gehen mußten.
Ihr klar geschnittenes und bezauberndes Antlitz ging — und ging immer wieder
— von dem Ausdrucke gebieterischer Härte in den einer kindlichen Freude über,
und es bedurfte jeweils nur weniger Augenblicke, um darauf immer wieder die
ganze Schar der Gemütsbewegungen, die ein Kampf um das Ideal auszulösen vermag,
zum Vorschein zu bringen. Es ist erstaunlich, wie das Antlitz des Menschen,
der erschafft, arbeitet. - Paul Valery, Über Kunst. Frankfurt am Main 1959 (BS 53,
zuerst ca. 1935)
Versteinerung (2) Das eben ist das Merkwürdigste an
der Medusa: obwohl auch sie »schönwangig« war wie ihre
Mutter, das Seeungeheuer Keto, ähnelte sie samt ihren Schwestern doch den Erinyen.
Goldene Flügel besaßen die Gorgonen, aber eherne Hände. Sie hatten mächtige
Hauer, wie die Eber, Schlangen um den Kopf und als Gürtel um den Leib gewunden.
Wer das schreckliche Gorgoantlitz erblickte, dem ging der Atem aus und der erstarrte
auf der Stelle zu Stein. -
(kere)
Versteinerung (3) Etwas streift seinen Arm.
Irgendwas Weiches, ein Tier ist vorbeigerannt. Er späht ins Dunkel,
wartet aufs Blitzlicht. Für einen hellen Moment ragt, keinen Meter
entfernt, etwas hervor. Beim nächsten Mal will er mehr erkennen, es ist
glänzend, rundlich, eine Schnauze vielleicht, aber als es blitzt,
klammert da nur ein dicker fetter Käfer.
Er lässt den Kopf wieder hängen und versteinert.
Ein erratischer Block, gefühllos, völlig gefühllos. Unempfindlich
gegenüber dem Wetter, den Jahreszeiten, den Jahren, der Zeit. Die Asseln
kommen schon, um unter ihm zu hausen. Seine Kappe wird als erstes
verwittern, danach die Hose, die Socken, die Schuhe. Im Hochsommer wird
er sich erhitzen und ausdampfen, Fliegen und Libellen werden sich auf
ihm wärmen, ein Flüchtender wird über ihn stolpern, während unter ihm
seine Aufzeichnungen ruhen, feucht, aber gut gepresst, ins Leder der
Tasche gebunden.
Sie werden ineinandersickern und sich samt Einband auflösen.
Nur er als Stein wird bleiben. - Christian Schulteisz, Wense. Berlin 2020