Migräne   Ich hocke auf allen vieren auf der Rückbank und strecke wie immer meinen Arsch so schön hin, dass ich ihn mir wie ein Ballon vorstelle, der vor dem Wagen schwebt, sich gleich vom übrigen Körper losreißt und davonfliegt. Während dieser Ballon durchlöchert wird von einer der spitzesten Nadeln, die ich jemals kennen gelernt habe, spüre ich die ersten Symptome. Sternchen trüben meinen Blick und verstärken den Eindruck des flimmernden Lichts. Beim letzten Stoß hat mein Körper, abgesehen von meinem Arsch, aufgehört zu existieren, hat sich seines Inhalts entleert, ist zusammengeschrumpft wie eine Frucht ohne Wasser, hat sich zersetzt in der Glut. Besser gesagt, es steht nichts mehr zwischen meinem Schädel, der im Schraubstock zerbröselt ist, und der Haut an meinem Hintern, wo noch die letzten Berührungen stattfinden. Ich brachte kein Wort mehr heraus. Als wir am Ziel waren, legte ich mich ganz steif in das hohe, breite Bett. An die beiden Enden, auf die mein Körper reduziert war, an das eine, wo er sich im Schmerz auflöste, und an das andere, das die Lust in eine Trägheit versetzt hatte, hängte sich das Gewicht des Schwindels, der mit den starken Kopfschmerzen kommt. Ich war gewissermaßen nur noch die Erscheinung eines Körpers, beschwert an den drei Punkten der einzigen Organe, die mir geblieben waren und an denen sich ein besorgter Mann leise zu schaffen machte.  - Catherine Millet, Das sexuelle Leben der Catherine M. München 2001

Migräne (2)   

Verschiedene Migräne-Halluzinationen als Visionen der HILDEGARD VON BINGEN. Darstellung von Visionen migränösen Ursprungs, aus einem Manuskript von Hildegards Scivias, um 1180 in Bingen niedergeschrieben. In Abb. A bilden leuchtende Sterne auf bewegten konzentrischen Kreisen den Hintergrund. In Abb. B verlöscht ein Schwärm funkelnder Sterne (Phosphene) nach seinem Durchzug (Aufeinanderfolge positiver und negativer Skotome). In den Abb. C und D zeigt Hildegard typische migränöse Fortifikationsfiguren, die strahlenförmig aus einem zentralen Punkt heraus entstehen, der im Originalmanuskript leuchtend hell und farbig ist (siehe Text).

Eine sorgfältige Analyse dieser Berichte und Zeichnungen läßt keinen Zweifel an der Genese dieser Visionen: Sie sind mit Sicherheit migränösen Ursprungs und illustrieren in der Tat mannigfache Variationen von visuellen Auren, wie sie zuvor beschrieben wurden. HILDEGARD schreibt:

Die Visionen, die ich sah, erblickte ich nicht im Schlaf, nicht im Traum, nicht in Verwirrtheit, nicht mit meinen leiblichen Augen oder meinen Obren am Fleisch und Blut, noch irgendwo im Verborgenen; sondern wach, aufmerksam und mit meinem geistigen Auge, und mit einer inneren Stimme sah ich sie bei klarem Verstand gemäß dem Willen Gottes.

Eine dieser Visionen, dargestellt in herabfallenden Sternen, die im Ozean verlöschen (Abb. B) deutet sie als »Der Fall der Engel«:

Ich sah einen herrlichen, wunderbaren Stern und dann eine unübersehbare Menge fallender Sterne, denen der Stern nach Süden folgte . . . Und plötzlich waren sie alle ausgelöscht, verwandelt in schwarte Kohle . . . and in den Abgrund geschleudert, so daß ich sie nicht mehr sehen konnte,

Soweit Hildegards allegorische Interpretation. Unsere nüchterne Interpretation meint, daß sie einen Schauer von Phosphenen sah, die durchs Gesichtsfeld wanderten, und denen anschließend ein negatives Skotom folgte.

Das Erlebnis solcher Auren geht mit Glücksgefühlen von großer Intensität einher, vor allem bei den seltenen Gelegenheiten, wenn die ursprünglichen Flimmerskotome ein weiteres Skotom hinter sieb herziehen:

Das Licht, das ich sehe, kann ich nicht orten, doch ist es heller als die Sonne; ich kann weder seine Höhe, noch Länge oder Breite bestimmen, und so nenne ich es »die Wolke des lebendigen Lichts«. Und so wie Sonne, Mond und Sterne sich im Wasser spiegeln, so leuchten Schriften, Worte, Tugenden und Taten der Menschen darin vor mir auf.

Manchmal sehe ich in diesem Licht noch ein weiteres Licht, das ich das »lebendige Licht selbst« nenne . . . und wenn ich es anschaue, schwinden Traurigkeit und Schmerlen aus meinem Gedächtnis, und ich bin wieder ein einfaches Mädchen und nicht eine alte Frau,

- Oliver Sacks, nach: Der Rabe 35, Zürich 1993

 

Kopfschmerzen

 

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