Krakeelen  Hast du  nicht bemerkt, daß keine Zeichen von Lustwandeln, Entleerung oder Wollust vorhanden waren, und daß du in keinem Fall in der Lage warst, jene ferne oder auch nahe Stimme zu deuten: ob sie sich näherte oder entfernte, ob sie dich wahrnahm, ob sie dich suchte, ob du ihr entfliehen oder mit ihr zusammenarbeiten solltest. Es scheint sicher, daß diese Beschreibung, auch wenn sie bizarr ist, einige beunruhigende Eigenschaften der Stimme erklären kann, aber es bleiben, wie du mir andeuten möchtest, andere recht gewichtige Unklarheiten: zum Beispiel, wieso es denn immer geschieht, daß du dich nie an dem Ort befindest, an dem die Worte geschehen. Doch bedenke: wenn du dich an jenem Ort befändest, dann wäre es unvermeidlich, daß du selbst Ort der Worte würdest, und dann gäbe es deine Aufgabe als Hörer nicht mehr, die für die Geschichte der Stimme grundlegend erscheint. Aber ich möchte dich jetzt darauf hinweisen, daß in diesem Augenblick die Zerstückelung der Stimmöffnungen zelebriert werden muß, wobei wir das Bild der Felsen- und Höhlenlandschaften als grundschulhaft rhetorische Anschauungstafel benützen können, um eine noch unbekannte und meiner Ansicht nach außerordentlich interessante Lage zu beschreiben; denn wenn es wahr ist, wie es den Anschein hat, daß die Stimmen vielfach sind, dann sind sie womöglich Inhaber von allmählich immer unterschiedlicheren aber nicht widersprüchlichen Wahnsinnen; warum also sollten wir, wenn der Wahnsinn sein Vorzeichen ändert, im Inneren des Gewirrs nicht auch Stimmen und Silben und ein Krakeelen phantasieren oder voraussetzen - denn es handelt sich doch hauptsächlich um ein Krakeelen - wobei es unmöglich ist, nicht zu bemerken, daß ein fortgesetztes Krakeelen auch der Beginn einer Dialektik sein könnte. Wenn ich hier das Wort Dialektik gebrauche - in einem Kontext, in dem man vermutet, daß eine Demenz sich von einem erdganghaften Verstand formulieren läßt - dann tue ich das natürlich deshalb, weil ich gern eine fröhliche Dyskrasie schaffen möchte, das Gefühl eines unerträglichen Schabernaks; aber es amüsiert mich auch, dich in einem Augenblick relativer Entspannung glauben zu lassen, daß alles, was gerade geschieht, mit einer Vernunft behaftet ist, die uns in anderen Fällen dazu verleiten könnte, von einer Koinzidenz des Realen und des Idealen zu sprechen, oder in diesem Fall von einer Kongruenz des Krakeelens und der Bedeutung, oder auch von der objektiven Kohärenz der Welt als Ort der Retrokreation des Krakeelens, womit ich meine, daß das Krakeelen dasjenige erschafft, was du - lange bevor du dein Zelt in diesem Dorf und dieser Nacht aufschlugst - in Augenblicken gedanklicher Obszönität das Reale nanntest.   - Giorgio Manganelli, Geräusche oder Stimmen. Berlin 1989

Schreien


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