nade   Der Herold war ein stattlich aussehender Bursche und trug den dem Reglement entsprechenden Leopardenfellmantel.

»Seid gegrüßt!« schrie er, als er herankam; »des Königs Grüße an diejenigen, die einen gottlosen Krieg gegen den König entfachen; des Löwen Grüße an die Schakale, die um seine Hinterfüße herumknurren.«

»Weiter im Text«, sagte ich.

»Dies sind des Königs Worte. Liefert euch des Königs Gnade aus, ehe euch Schlimmeres widerfährt. Die Schulter des schwarzen Stiers wurde bereits zerfleischt, und der König treibt ihn blutend durch das Lager.«

»Welche Bedingungen stellt Twala?« fragte ich aus purer Neugierde.

»Seine Bedingungen sind gnädig, eines mächtigen Königs würdig. Dies sind die Worte Twalas, des Einäugigen, des Mächtigen, des Gatten von tausend Frauen, des obersten Herren der Kukuanas, des Wächters der ›Großen Straße‹ (Salomons Straße), geliebt von den ›Wunderbaren‹, die schweigend an den Bergen da drüben sitzen (die ›drei Hexen‹), des Kalbes der Schwarzen Kuh, des  Elefanten, dessen Tritt die Erde erbeben läßt, des Schreckens der Verworfenen, des Straußen, dessen Füße die Wüste verschlingen, des Riesigen, des Schwarzen, des Weisen, König von Geschlecht zu Geschlecht! Dies sind die Worte von Twala: ich will Gnade walten lassen und mich mit wenig Blut zufrieden geben. Jeder Zehnte soll sterben, die übrigen sollen frei ausgehen.«    - Henry Rider Haggard, König Salomons Schatzkammer. Zürich 1982  (zuerst 1885)

Gnade (2)  Die größte Gnade auf dieser Welt ist, so scheint es mir, das Nichtvermögen des menschlichen Geistes, all ihre inneren Geschehnisse miteinander in Verbindung zu bringen. Wir leben auf einem friedlichen Eiland des Unwissens inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es ist uns nicht bestimmt, diese weit zu bereisen. Die Wissenschaften - deren jede in eine eigene Richtung zielt - haben uns bis jetzt wenig gekümmert; aber eines Tages wird das Zusammenfügen der einzelnen Erkenntnisse so erschreckende Aspekte der Wirklichkeit eröffnen, daß wir durch diese Enthüllung entweder dem Wahnsinn verfallen oder aus dem tödlichen Licht in den Frieden und die Sicherheit eines neuen, dunklen Zeitalters fliehen werden.  - H. P. Lovecraft, Cthulhus Ruf. In: Cthulhu. Geistergeschichten. Übs. H. C. Artmann. Frankfurt am Main 1972 (st 29, zuerst 1928)

Gnade (3)   Diagoras, den sie den Gottlosen nannten, antwortete, als er sich in Samothrake aufhielt, einem, der ihm im Tempel die vielen Votivtafeln und Weihgaben jener vorführte, die dem Schiffbruch entkommen waren, und ihm sagte: Nun, da du glaubst, daß sich die Götter um die menschlichen Anliegen nicht kümmern, was hältst du von so vielen Menschen, die durch ihre Gnade gerettet wurden? — Das kommt daher, antwortete er, daß die Ertrunkenen, deren weit mehr waren, nicht mitgemalt sind!  - (mon)

Gnade (4)  

Gnade (5)   Glücklicherweise geriet Bartlebooth nach diesen Stunden des Wartens, nachdem er durch alle Grade der Angst und der kontrollierten Erbitterung hindurchgegangen war, meistens in einen Zustand der Bewusstseinstrübung, eine Art Stase oder Stockung, in so etwas wie eine durch und durch asiatische Stumpfheit oder Benommenheit ähnlich jener vielleicht, wie sie der Bogenschütze sucht: ein tiefes Vergessen des Körpers und des anzustrebenden Ziels, ein leerer, vollkommen leerer Geist, offen, verfügbar, eine intakte Aufmerksamkeit, jedoch frei über den Wechselfällen des Lebens, den Zufälligkeiten des Puzzles und den Fallen und Schlingen des Handwerkers schwebend. In diesen Augenblicken sah Bartlebooth, wie sich die feinen Holzausschnitte ganz genau ineinanderfügten und konnte, wenn er zwei Teile nahm, denen er nie Beachtung geschenkt hatte oder von denen er vielleicht stundenlang geschworen hatte, dass sie sich faktisch nicht zusammenbringen ließen, sie mit einer einzigen Handbewegung zusammensetzen.

Dieser Eindruck der Gnade dauerte manchmal minutenlang und Bartlebooth hatte dann das Gefühl, ein Hellseher zu sein: Er nahm alles wahr, er verstand alles, er hätte das Gras wachsen, den Blitz in den Baum einschlagen oder die Erosion die Berge schleifen sehen können, etwa so, wie eine Pyramide ganz allmählich von dem Flügel eines Vogels, der sie streift, abgenutzt wird: Er legte die Einzelteile blitzschnell aneinander, ohne sich je zu irren, fand unter allen Einzelheiten und Kunstgriffen, die sie zu verschleiern strebten, diese winzige Klaue, jenen unmerklichen roten Faden, eine Kerbe mit schwarzen Rändern, die ihm zu allen Zeiten die Lösung gezeigt hätte, wenn er Augen gehabt hätte zu sehen: Getragen von dieser exaltierenden und sicheren Trunkenheit veränderte sich innerhalb weniger Augenblicke eine Situation, die seit Stunden oder Tagen die gleiche geblieben war und deren Auflösung er sich nicht einmal mehr vorstellen konnte, von Grund auf: Ganze Räume wurden zusammengeschweißt, Himmel und Meer fanden wieder ihren Platz, Stämme wurden wieder zu Zweigen, Vögel zu Wellen, Schatten zu Seegras.

Diese besonderen Augenblicke waren genauso selten wie berauschend und ebenso vergänglich, wie sie wirksam schienen. Sehr schnell wurde Bartlebooth wieder so etwas wie ein Sandsack, eine träge, an seinen Arbeitstisch gefesselte Masse, ein Schwachkopf mit leeren, des Sehens unfähigen Augen, der stundenlang wartete, ohne zu begreifen, worauf er wartete.  - (per)

Gnade (6)  Herr *** sagte mir, daß Frau von C., die fromm zu sein versucht, es nie so weit bringen würde, denn außer der Einfalt des Glaubens bedürfte man für sein Seelenheil eines Kerns gewöhnlicher Dummheit, die ihr nur allzuoft abgehen würde. »Und das ist der Kern«, fügte er hinzu, »den man die Gnade nennt.«   - Chamfort, nach (cham)

 

 Machtmittel Milde Geschenk

 

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