»Ich hab den Mädels ein paar Bilder gezeigt, Hoke«, sagte Slater, »und ihnen ein paar Fälle erklärt. Sie haben doch den Fall Merkle, den mit der Schrotflinte, bearbeitet, oder? Wir nannten die Tote ›Laura‹; ihr Gesicht war nicht mehr zu erkennen.«
»Das war Quevedos Fall«, sagte Hoke. »Aber ich habe ihm einen Teil der Laufereien abgenommen. Ich glaube, das haben wir alle getan. Sie erwischten den Täter, als er versuchte, die Goldkette abzusetzen. Der Mord geschah in der Garageneinfahrt, Kinder. Der Kerl folgte Mrs. Merkle vom Supermarkt nach Hause, weil sie eine dicke goldene Kette um den Hals trug. Er erschoß sie wegen der Kette und einer Tüte Lebensmittel im Wert von zirka vierzig Dollar. Jede Frau, die hier in Miami eine goldene Kette trägt, fordert es heraus. Und wenn sie sie jeden Tag trägt, kann sie damit rechnen, daß sie ihr jemand abreißt. Aber dieser Kerl war verrückt. Er hätte sie nicht umzubringen brauchen. Ihr Mädchen tragt doch wohl keine Halsketten, oder?«
Sue Ellen und Aileen starrten immer noch mit großen Augen auf das zerstörte Gesicht auf dem Bildschirm und schüttelten den Kopf.
»Tut das nie, Mädels«, sagte Slater. »Meistens arbeiten sie zu zweit;
sie fahren in der Stadt herum, bis sie jemanden entdecken. Dann springt
einer aus dem Wagen, entreißt dem Opfer Handtasche und Kette, steigt wieder
ein, und sie fahren weg. Sie sind schwer zu fassen, denn meistens wird
die Frau hysterisch und kann sich in der Hälfte der Fälle nicht mal erinnern,
ob die Täter schwarz oder weiß waren. Unser Problem bei Mrs. Merkle war,
daß wir, obwohl wir wußten, wer sie war, ihre Identität eine Zeitlang nicht
beweisen konnten. Wir hatten keine Fingerabdrücke von ihr in unseren Akten,
die uns dabei geholfen hätten, und wie ihr deutlich sehen könnt, war sie
völlig unkenntlich. Wir versuchten, sie anhand eines Ölgemäldes — eines
Porträts — zu identifizieren, da wir kein Foto hatten. Aber die Leute,
die sie kannten, behaupteten, das Gemälde sei ihr nicht ähnlich, und so
wollte niemand sie verbindlich identifizieren. Deshalb nannten wir sie
›Laura‹, nach dem alten Film mit Clifton Webb. Das war übrigens auch ein
ziemlich guter Film. Wenn der noch mal spät abends im Fernsehen gezeigt
wird, solltet ihr ihn euch ansehen.« - Charles Willeford, Neue Hoffnung
für die Toten. Berlin 2002 (zuerst 1985)
Gesicht, weibliches
(2)
Ich hatte die
Gewohnheit, jeden Morgen eine Zigarette auf einem Türmchen des Schlosses
zu rauchen, wohin eine Wendeltreppe führte, die ein großes Fenster im Oberstock
erhellte.
Lautlos, die Füße in meinen Maroquinpantoffeln mit den gepolsterten Sohlen, schickte ich mich an, die ersten Stufen zu nehmen, als ich Cesarine gewahrte, die sich zum Fenster hinausbeugte und ins Freie schaute.
Ich sah nicht die ganze Cesarine, sondern nur eine Hälfte von ihr, die untere Hälfte; mir war diese Hälfte genauso lieb. Von Madame de Jadelle hätte ich vielleicht die obere vorgezogen. Sie sah bezaubernd aus, diese Hälfte, die sich mir darbot, so rund, nur eben mit einem leichten weißen Unterrock bekleidet.
Ich schlich ganz leise hinan, damit das Mädchen mich nicht hörte. Ich ließ mich auf die Knie nieder; mit unendlicher Behutsamkeit faßte ich die Säume des zarten Unterrocks und hob ihn behend in die Höhe. Ich erkannte es augenblicklich, dieses heimliche Gesicht meiner Liebsten, so drall, frisch, füllig und süß, und setzte, um Vergebung, meine Damen, setzte einen zärtlichen Kuß darauf, den Kuß eines Liebhabers, der alles wagen darf.
Doch wie erstaunte ich: es duftete nach Verbenen! Aber ich fand nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Ich erhielt einen harten Schlag, vielmehr einen Stoß ins Gesicht, der mir fast die Nase gebrochen hätte. Dazu hörte ich einen Schrei, der mir sämtliche Haare sträubte. Die Person hatte sich umgedreht - es war Madame de Jadelle!
Sie ruderte mit den Händen durch die Luft wie jemand, der das Bewußtsein verliert; sie keuchte einige Sekunden, holte aus, als wollte sie mich peitschen, dann entfloh sie.
Zehn Minuten später brachte mir die bestürzte Cesarine ein Billett;
ich las: »Madame de Jadelle erwartet, daß Monsieur de Brives sie unverzüglich
von seiner Gegenwart befreit.« - (
nov
)
Gesicht, weibliches
(3)
Dies andere
Gesicht - das einer nicht mehr jungen Frau - hat jene mysteriöse Eigenschaft,
die einzig und allein das Leben aufweist: es ist nicht schön. Etwas Schwieriges,
Unebenes und Bitteres liegt darin; dieses Gesicht muß ein langer, gewaltsamer
Daseinsweg gezeichnet haben, der es beständig schliff und tagtäglich aufzureiben
drohte. Diese Frau hat etwas Gebieterisches, sie hat hart gekämpft, ehe sie
dieses Gesicht bekam; und ihre Aufmachung, ihr Schmuck, die fein ziselierten
Ohrgehänge und ihre strenge Haartracht verhehlen nichts: es sind Errungenschaften,
die von der Geduld und Stärke, der Macht und dem Geld sprechen, durch die sie
erobert wurden; es sind keine Geschenke des Lebens, wie sie ein anmutiges Gesicht
empfängt. Dies Antlitz hier ist zugleich hart und verschwiegen; und wenn ich
im Leben der Frau nachforsche, stoße ich auf geheimnisvolle Spuren von Gewalttaten,
von durchgestandenem und verweigertem Schmerz, von berechnender Ablehnung,
von kühler und heftiger Hingabe. -
Manganelli furioso. Handbuch für unnütze Leidenschaften. Berlin 1985
Gesicht, weibliches
(4) Mit diesem Gesicht
hatte es eine Bewandtnis ganz anderer Art: nichts von einem Symbol ehelicher
Urmütterlichkeit, sondern verhängnisträchtig, ganz und gar unersättliche unvergängliche
Sterilität: ehelos, unfruchtbar, ohne Nachkommen; ohne nach mehr zu verlangen:
einfach fordernd, alles fordernd - Liliths verlorenes unersättliches
Antlitz, wie es das innerste Wesen - Willen und Hoffnung und Traum und Phantasie
- aller Männer [auch dich, dich und auch deinen Begleiter] in dieses eine strahlende
feine Netz und Gespinst zieht; nicht erhascht, umgarnt mit nur einem unfehlbaren
Wurf, sondern sehenden Auges, dichtgedrängt und geduldig, Zeugen des Webens
der goldenen Drosselflechten. - William Faulkner, Requiem für eine Nonne.
München 1964
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