Gedeihen  Barberines Geburt war für niemand ein Ereignis gewesen. Ihr Vater, der schon nicht mehr recht bei Verstand war, hatte sie in die Arme genommen und ihr laut ins Gesicht gelacht; ihre Mutter, die alle Jahre ein Kind bekam, hatte ihr nicht einmal einen Blick gegönnt (ihr Lebensinhalt war anderswo); sie hatte Barberine nur mechanisch an ihrer verwüsteten Brust aus der gleichen kargen Quelle trinken lassen, die auch den Durst der übrigen gestillt hatte, und sobald ihr Leib sich wieder geschlossen hatte, war sie aus dem Bett in ihren Laden hinuntergestiegen und hatte Barberine nackt zu ihren Füßen aufs Trottoir geworfen, wo das Kind wie ein kleines obszönes Tier sich wälzte.

Wenn ihre Schwestern heimkamen,  schlössen sie Barberine in die Arme oder trugen sie in ihr schwarzes Bettchen, das nur um ein geringes weniger schwarz war als sie, und wiegten sie darin, die dort mit festgeschlossenen Fäusten schlief. Nur zweimal war sie während ihrer Kindheit, dem Brauch nach, gewaschen worden, am Abend vor ihrer Taufe und an dem Tage, da ihre Schwester Emma sie in die Senkgrube hatte fallen lassen. Sie gedieh vortrefflich.

Sobald sie laufen konnte, hatte Barberine sich die Töpfe zu Verstecken ausersehen: sie schlüpfte hinein, verbarg sich dahinter; Madame Po stellte sich, als suche sie sie. War sie diesen Spielen im Laden ihrer Mutter entwachsen, trieb Barberine sich in den Feldern herum, und alles, was gern lustig war in Chaminadour, heftete sich an ihre Fersen. Kaum war man weit genug weg, so ging es ans Tanzen, in flatternden Hemden oder auch ohne Hemd, zwischen Buschwerk und Hecken, und wenn der Narr, ihr Vater, während des Festes unversehens aus dem Gesträuch auftauchte, ließ man sich nicht beirren, da er ja niemanden erkannte, auch Barberine nicht, ebensowenig wie irgendwen, außer Madame Po, auf der ganzen Welt; man flocht ihm Kränze und umkreiste ihn in unaufhörlichen neuen Reigentänzen, so daß der Alte sich einen Augenblick lang wie der Gott Pan inmitten der Najaden vorkam.  - Marcel Jouhandeau, Barberine oder Das Cache-Pô. In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964

 

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