nthropologie  Maser  beabsichtigte, mittels einer sorgfältig programmierten Luftbeobachtungskampagne, von oben die vielfältigen Aktivitäten zu erfassen, denen sich der zeitgenössische Mensch hingibt, wenn ihn niemand sieht; und zwar deshalb, weil die gängigen Werke über Anthropologie und die Varia des Menschseins diesbezüglich höchst unterschiedliche Informationen liefern. Nach Apfel, zum Beispiel, schläft der Mensch; nach Orolog frißt er das Gras ab oder schreibt; nach Affreschi studiert er das Leben der Ameisen, Termiten, Holzwürmer und in besonderer Weise den Gang der Gezeiten. Zu diesem Zweck statistischer Untersuchung hatte sich der Hubschrauber jedoch leider nicht nur als nutzlos, sondern sogar als kontraproduktiv erwiesen; die Maschine machte einen Lärm wie dreitausend Ventilatoren zusammen, was dazu führte, daß bei Masers Erscheinen die potentiellen Studienobjekte, anstatt sich beobachten zu lassen, ihre Tätigkeiten unterbrachen und ihrerseits den Beobachter beobachteten. Überrascht von diesen indiskreten Blicken, tat Maser so, als ob er stricken würde; und er hatte seinen ersten Pullover noch nicht fertig, als in der anthropologischen Zeitschrift «Sperma» ein Aufsatz über das Verhalten der Soziologen in der Luft erschien und ein anderer über die phallische Bedeutung der Wollstrickerei von den ersten phönizischen Seefahrern bis heute.  - J. Rodolfo Wilcock, Das Stereoskop der Einzelgänger. Freiburg  1995 (zuerst 1972)

Anthropologie (2)  

Er erfindet die Feldforschung: Fragebogen,
Interview-Technik, Cross-checking, Teamwork.
Seine Schüler bildet er selber aus: Transkriptionsregeln,
Grammatiken und Glossare. Auch die Vulkane besteigt er.
Aber nicht das, was er sieht, soll gelten.
Die Überlebenden fragt er, die letzten Azteken.
Was ist ein Berg? Sie diktieren. Der Schreiber schreibt:

Der Berg
Es ist etwas Hohes, Spitziges; oben zugespitzt,
auf dem Gipfel, spitzig, erhebt es sich ragend;
wird kegelig, rund; ein runder Berg, niedrig;
mit vielen Felsen, felsig; schroff, rissig, felsig;
aus Erde; mit Bäumen; grasig; mit Gräsern; mit Wasser;
trocken; gezackt; mit Schluchten; mit Höhlen;
Schluchten gibt es darin, steinerne Blöcke.
Ich steige auf, ich klettere auf den Berg. Ich lebe
auf dem Berg. Ich bin auf dem Berg geboren. Niemand
kann zu einem Berg werden. Niemand verwandelt sich
in einen Berg. Endlich zerbröckelt der Berg auch.

Náhuatl: Alles schmeckt anders, hat andere Farben,
Namen, Artikulationen. Vom Sonnengott bis zur Mücke:
eine andere Welt. (Was bedeutet der Ausdruck
»Eine andere Welt« ?) Beschreibung sämtlicher Dinge
von Neu-Spanien.
Nicht das Vergleichliche nämlich
interessiert ihn an jenen (und folglich an uns),
sondern das was er nicht versteht.

Eine Wissenschaft, die den Menschen betrachtet
als Etwas Anderes. Dieses Unverständliche ist es,
was Angst macht und was die einzige Hoffnung ist.
Der erste Anthropolog hat Höllenangst vor denen,
die er befragt, vor ihren (und unsern) Blutopfern,
Lügen, Idolen. Sein Werk wird drei Jahrhunderte lang
im Dunkeln liegen, verboten, im Staub der Archive.

Die Höhle
Dort dehnt es sich aus, dort wird es lang und tief,
es öffnet sich, es verengt sich. Es ist ein enger Ort,
ein Ort der Bedrängnis. Dort wird es unwegsam, rauh.
Es ist ein furchtbarer Ort, ein Ort des Todes,
ein Ort der Finsternis. Dort wird es finster,
dunkel. Sein Mund steht weit offen, sein Rachen.
Es ist ein breiter Rachen, ein enger Rachen.
Ich nehme meinen Aufenthalt in der Höhle.
Ich trete ein. Ich bin hier. In der Höhle bin ich.

- Hans Magnus Enzenberger, Bernhardino de Sahagún. In: H.M.E., Die Elixiere der Wissenschaft. Frankfurt am Main 2002

 

Wissenschaft

 

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Menschenforschung
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