öhle    Man steigt in ein Loch und muß auf den Knien weiterkriechen. Zuerst ist es noch Sand, bald danach nur noch Stein; die kantigen Steine sind schmierig und glitschig. Schmerzen in den Knien; überall Bitumenabsonderungen; man muß auf der Brust vorwärts kriechen, qualvolle Strapaze; allein käme man nicht weit, man würde von Angst und Mutlosigkeit gepackt. Es geht um Ecken, abwärts und aufwärts; oft muß man sich auf die Seite gleiten lassen, um voranzukommen; ich bin oft gezwungen, mich auf den Rücken zu legen und wie eine Schlange ruckartig mit den Wirbeln weiterzukriechen. Etwa zweihundert Schritt vor dem Mumienlager der ausgedörrte Kadaver eines Arabers, den man nur bis zum Rumpf richtig erkennen kann: sein Gesicht ist fürchterlich verzerrt, der seitlich verzogene Mund, rund wie ein Ei, schreit mit aller dem Menschen zu Gebote stehenden Kraft; es handelt sich um einen Araber, der mit einem Maghrebiner hierhergekommen und auf unbekannte Weise umgekommen ist. Die Überlieferung will, daß sie hier Schätze suchen wollten und daß der Teufel ihn erwürgt hat. Noch vor knapp ein paar Jahren hätte man diese Höhlen zwar betreten können, man wäre aber nach fünf Minuten erstickt; zweifelsohne hat sich seitdem irgendeine Luftzufuhr eingestellt. Vor einigen Jahren ist hier ein Feuer ausgebrochen, das ein Jahr lang gebrannt hat; das ist zweifelsohne die Ursache für diese merkwürdige Feuchtigkeit, die hier herrscht, von überall tropft Bitumen herab, auf den Felsen haben sich dadurch eine Art Stalaktiten gebildet, man kommt ganz geteert heraus; der oben erwähnte Araber hat sich von selber mumifiziert. Als man mir sagt, ich solle mir noch einen Ruck geben (die Kerzen sind erloschen), stütze ich mich auf die beiden Mumienfüße, die die Schwelle bilden, und ich gelange hinein.

Wirre Anhäufung von Mumien jeder Art, die Decke schwarz von Bitumen, die Seiten voll von Schatten, der Boden graugelb, von der Farbe der Binden; ich lasse mich keuchend auf dem Boden nieder, höre gar nicht mehr auf zu husten.

Da liegen sie alle ganz ruhig, übereinandergeschichtet, auf einem Haufen; mit den Füßen zertritt man Knochen, man hält die Hand nach unten, und schon zieht man einen Arm hervor. Bis zu welcher Tiefe müßte man hinabsteigen, um an den Grund zu stoßen? Es gibt ihrer undenkbar viele.  - (orient)

Höhle (2)   Auf die letzte Frage des Colonels antwortete der Kommissar nicht sofort. Sein Blick wanderte durch die Kabine. Er nahm jede kleinste Einzelheit in sich auf. Dann sagte er langsam:

»Weil...«

Bedachtsam wählte er die passenden Worte, während Sir Lampson aufs neue die Gläser füllte.

»Ein Mensch, der nirgends hingehört ... ein Mensch, der alle Brücken zu seiner Vergangenheit abgebrochen hat, den sogar nichts mehr mit seiner einstigen Mentalität verbindet, mit dem Menschen, der er früher war ... auch dieser Mensch muß sein Herz an irgend etwas hängen. Jean liebte eben seinen Stall. Er liebte den warmen, erdnahen Geruch, liebte seine Pferde und den kochendheißen Kaffee, den man um drei Uhr morgens trank, ehe man bis zum Abend auf den Füßen war. Der Stall war ihm das, was dem Tier seine Höhle ist. Es war der einzige Platz auf Erden, der ihm gehörte, der sein Zuhause war.« .

Maigret sah dem Colonel gerade in die Augen. Sir Lampson wandte den Blick ab. Der Kommissar griff nach seinem Glas und fügte hinzu:

»Es gibt alle möglichen Arten von Höhlen, die zum Zuhause werden. In manchen riecht es nach Whisky, Eau de Cologne und Frau ... Dazu hört man die Musik eines Plattenspielers ...«

Er verstummte, um zu trinken. Als er den Blick hob, hatte der Colonel bereits ein drittes Glas geleert.

Sein Gastgeber sah ihn mit glasigen Augen an und reichte ihm die Flasche.

»Nein, danke«, wehrte Maigret ab.  - Georges Simenon, Maigret tappt im dunkeln. München 1973 (Heyne Simenon-Kriminalromane 93, zuerst 1931)

Höhle (3)  Eine solche Höhle hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Es gibt ja auf der ganzen Welt wüste Lokalitäten - den Vieux Port in Marseille, die Casbah in Algier, die Boca unten in Buenos Aires -, aber dies war eine Mischung aus alldem; eine Mischung, die in einem stickigen Kessel brodelte, stank, schwitzte, fluchte und zischte. Draußen war wenigstens eine klare Nacht gewesen, selbst auf der stinkenden Straße. Aber hier war nur beleuchteter Nebel, eine Art angestrahlter Dunst. Man sah alles, konnte aber nichts genau erkennen; alles war nebelhaft und verschwommen.

Im Vergleich dazu wirkte Sloppy's mit seiner harmlosen Liederlichkeit wie das Ritz. Hier wimmelte es von menschlichen Wesen; sie waren wie Maden, die sich auf jedem Zentimeter unter den flackernden Öllampen krümmten. Schwarze, Braune, sonnenverbrannte Weiße, Gelbe - alle Rassen -, und alle jeweils der Abschaum ihrer Rasse.

Die Weißen waren in der Minderheit: Herumtreiber, Trampschiffer, Hafenräuber und Schläger. Auch einige Frauen waren darunter, aber das konnte mein Entsetzen kaum noch vergrößern. Wenigstens wurde ich von niemand besonders beachtet, als ich mit tief heruntergezogener Mütze hinter ihm hineinschlurfte.

Wir wühlten uns bis nach hinten durch und mußten dabei über und auch auf Leute steigen. Eine Hand - wohl die einer Frau - griff nach mir, fiel aber schlaff zurück, als ich einfach weiterging.

Er setzte sich auf eine Holzbank an der Wand, vor der ein schiefer Tisch stand, auf dessen Ende jemand seinen Kopf gelegt hatte. Ich entdeckte einen freien Stuhl und setzte mich neben ihn. Niemand beachtete uns; wir waren in der wimmelnden Masse nur zwei weitere Maden. - Cornell Woolrich, Der schwarze Pfad. Zürich 1988 (zuerst 1944)

Höhle (4)  Eberhard hatte mir von einem Buch erzählt, an dem er schrieb. Es hieß ›Die Höhle‹. In einer Höhle liegt ein Mann, der in Verwesung übergeht. Ihn braucht man nicht ans Kreuz zu nageln, er kriecht selber aufs Kreuz. Zuletzt kommt einer, der ihn vor dem Tod erretten will. Woraufhin der Sterbende den Samariter erschlägt. - (kap)

Höhle (5)  Heute wählen die Hadesreisenden Höhlen zur Wohnstatt; reichlich vertreten in den Vorstädten des Hades, und aus ihnen bestehen die Vorstädte eigentlich; Höhlen, sagten wir: aber es ist zu bezweifeln, daß sie je von Tieren bewohnt waren, von Ungeheuern und anderen lebendigen Wesen; Risse oder Spalten oder in die Härte des Steins gegrabene Löcher: durch äußere Unbilden oder durch inneres Abbröckeln ausgehöhlt; dunkel und tief manchmal, oder schmal und eng, klaffen die Spalten auseinander; immer unbequem und spitz, manchmal feucht vom verborgnen Gewimmer unterirdischer Wasser, bröcklig, beunruhigt durch Ächzen rutschender Erde; aber immerhin bewohnbar und tatsächlich bewohnt. Dort hocken die menschlichen Wesen, selten mehr als eines in jeder Höhle; dorthinein schlüpfen sie, dort tischen sie ihre traurige Speise auf, dort lagern sie, auf dem Boden kauernd, zwischen Felsspitzen und Steinen, und von dort endlich werden sie eines Tages zum Eingang des Hades sich wenden.   - (nieder)

Höhle (6)  Die Spinne hebt den Schleiervorhang, klappt ihn auf wie die Haut eines unendlich verendeten Untiers, eines weiteren falschen Gotts. Meine haarige stachlige vielfarbige und undeutliche Fleischmasse dringt in die Finsternis der Höhle ein. Das Netz fällt wieder herab. Als ich/wir gegen etwas stoßen, bleiben wir stehen und horchen auf ein tiefes Atmen, das als milchige Blase vom unsichtbaren Boden aufsteigt - ein rhythmisches Atmen: Ausatmen-Stille-Einatmen, Wie groß ist die Höhle? Die Höhle ist alles; wie immer an diesem Ort sind ihre Grenzen die unmöglichen Grenzen dessen, was ich die Hölle nenne. Ich fühle mich als eine Menge Tiere - Vögel und Insekten - und Kieselsplitter, versteinerte Farne und balsamische Töpfe mit jahrtausendealten Wohlgerüchen. Die Töpfe? Ich blicke in mich hinein und betrachte die Scherben; ich erkenne eine unerforschliche Reihe von Tränenkrügen; ich greife nach einer durch sich selbst geschwärzten Öllampe und sie entzündet sich mir in der Hand. Jetzt sehe ich es. Ich bin wieder die Stadt.

Der Grundriß ist unverändert. Ich unterscheide mich weder von der Stadt, die das Verbrennen der Hexen bestaunte, noch von der Seuchenstadt, deren Steine am Fleckfieber starben. Ich bin jetzt die zerstörte Stadt. - (hoelle)

Höhle (7)

"Who's there?"- "Nobody."

- N. N.

Loch

 

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