ettel  In der Universitätsbibliothek zu Salzburg hat sich an dem großen Lüster im großen Lesesaal der Bibliothekar erhängt, weil er, wie er auf einem hinterlassenen Zettel schreibt, es nach zweiundzwanzig Dienstjahren plötzlich nicht mehr ertragen hatte können, Bücher zu ordnen und Bücher auszuleihen, die nur dazu geschrieben worden sind, um Unheil anzurichten, wobei er sich auf alle jemals geschriebenen Bücher bezieht. Das hat mich an den Bruder meines Großvaters erinnert, der Revierjäger in Altentann bei Henndorf gewesen ist und sich auf dem Gipfel des Zifanken erschossen hat, weil er das Unglück der Menschen nicht mehr ertragen habe können. Auch er hatte diese eine Erkenntnis auf einem Zettel hinterlassen. - Thomas Bernhard,  Der Stimmenimitator, nach  (enc)

Zettel (2)  Es schien Murphy, daß von allen Freunden, die er unter den Patienten hatte, keiner seinem «Zettel» gleichkäme, Mr. Endon war sein «Zettel». Es schien Murphy, daß er an Mr. Endon gebunden war, nicht durch den Zettel, sondern durch eine Liebe reinster Art, die frei von den in der großen Welt üblichen frühreifen Ejakulationen von Gedanken, Worten und Taten war. Sie blieben füreinander, selbst wenn sie sich im Geiste völlig eins waren, wie Murphy schien, Mr. Murphy und Mr. Endon.

Ein «Zettel» war ein Patient «auf Pergament» (oder «unter Aufsicht»). Ein Patient wurde «auf Pergament» (oder «unter Aufsicht») gestellt, sobald es einen Anlaß gab, ihn ernstlicher, selbstmörderischer Absichten zu verdächtigen. Der Anlaß konnten vom Patienten geäußerte Drohungen oder ganz einfach der Tenor seines allgemeinen Verhaltens sein. Dann wurde ein Zettel auf seinen Namen ausgefüllt, auf dem in allen Fällen genau angegeben wurde, für welche Art des beabsichtigten Selbstmords der Betreffende eine Vorliebe geäußert hatte. Zum Beispiel; «Mr. Higgins. Harakiri oder jedes andere geeignete Mittel.» - «Mr. O'Connor. Gift oder jedes andere geeignete Mittel.» - «Jedes andere geeignete Mittel» war eine Sicherheitsklausel. Der Zettel wurde dem Chefkrankenpfleger übergeben, der ihn abzeichnete und an einen seiner Oberkrankenpfleger weiterleitete, der ihn dann ebenfalls abzeichnete und von dem Moment an für den natürlichen Tod des betreffenden Kranken verantwortlich war. Zu den besonderen Pflichten, die mit dieser Verantwortung zusammenhingen, gehörte vielleicht vor allem die Kontrolle des Verdächtigen, die in regelmäßigen Abständen von nicht mehr als zwanzig Minuten zu erfolgen hatte. Man hatte im M. M. M. nämlich die Erfahrung gemacht, daß nur ganz Geschickte und Entschlossene es in kürzerer Zeit schafften.

Mr. Endon war auf Pergament, und Murphy hatte seinen Zettel: «Mr. Endon. Apnoea, oder jedes andere geeignete Mittel.»

Selbstmord durch Apnoea war oft versucht worden, vor allem von zum Tode Verurteilten. Vergeblich. Es ist eine physiologische Unmöglichkeit. Aber der M. M. M. war nicht gewillt, unnötige Risiken einzugehen. Mr. Endon hatte immer wieder beteuert, daß es, wenn überhaupt, dann durch Apnoea geschehen würde und nicht anders. Er sagte, daß seine innere Stimme keine andere Methode billige. - (mur)

 

Zettelkasten

 

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