Transfinalität  Jean Baudrillard in seinem "Exponentielle Instabilität und Stabilität" betitelten Aufsatz:

Das Problem einer Diskussion über das Ende (und das der Geschichte im besonderen) liegt darin, daß man von dem, was nach dem Ende kommt, und zugleich von der Unmöglichkeit, Schluß zu machen, reden muß. Dieses Paradox ergibt sich daraus, daß in einem nichtlinearen Raum, im nichteuktidischen Raum der Geschichte kein Ende ausgemacht werden kann. Ein Ende ist nur in einer logischen Kausalitäts- und Kontinuitätsordnung vorstellbar. Weil die Ereignisse selber künstlich erzeugt werden, vernichten sie durch ihr vorprogrammiertes Verfallsdatum oder durch die Vorwegnahme ihrer Wirkungen (ganz zu schweigen von ihrer Verklärung in den Medien) das Verhältnis der Ursache zur Wirkung und somit jede geschichtliche Kontinuität.

Diese Verzerrung von Ursachen und Wirkungen, diese geheimnisvolle Autonomie der Wirkungen, diese Umkehrung von Wirkung und Ursache, die Unordnung oder eine chaotische Ordnung erzeugt (genau das ist unsere gegenwärtige Situation: eine Umkehrung von Information und Realem, die eine Unordnung von Ereignissen und eine völlig überdrehte Medienwirkung erzeugt), erinnert unweigerlich an die Chaostheorie und an das Ungleichgewicht zwischen dem Flügelschlag eines Schmetterlings und dem Orkan, den er am anderen Ende der Welt auslöst. Außerdem erinnert sie an die paradoxe Hypothese von Jacques Benveniste über das Gedächtnis des Wassers ...

Vielleicht muß man die Geschichte selber als eine chaotische Formation betrachten, bei der die Beschleunigung der Linearität ein Ende macht und wo die von der Beschleunigung geschaffenen Turbulenzen die Geschichte endgültig von ihrem Ende entfernen, so wie sie die Wirkungen von ihren Ursachen entfernen. (Baudrillard 1994)

Erstens kehrt die Chaostheorie in keiner Weise das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung um. (Selbst wenn es um Menschen geht, hegen wir ernste Zweifel daran, daß sich eine Handlung in der Gegenwart auf ein Ereignis in der Vergangenheit auswirken könnte!) Auch hat die Chaostheorie nichts mit Benvenistes These zum Gedächtnis von Wasser zu tun. Und schließlich ist der letzte Satz zwar aus wissenschaftlichen Fachbegriffen zusammengesetzt, aus wissenschaftlicher Sicht aber völlig ohne Bedeutung.

Der Text fährt in einem allmählichen Crescendo von Unsinn fort:

Selbst wenn es sich um das Jüngste Gericht handelt, werden wir unsere Bestimmung nicht erreichen. Wir sind heute von unserer Bestimmung durch einen Hyperraum mit variabler Brechung abgeschnitten. Man könnte die Rückwendung der Geschichte durchaus als eine Turbulenz dieser Art interpretieren, die sich aus einer Beschleunigung von Ereignissen ergibt, welche ihren Lauf umkehrt und ihre Bahn auslöscht. Das ist eine Version der Chaostheorie, die Version der exponentiellen Instabilität und ihrer unkontrollierbaren Wirkungen. Sie berücksichtigt besonders das "Ende" der Geschichte, die in ihrer linearen und dialektischen Bewegung durch jene katastrophische Singularität unterbrochen wird ...

Aber die Version der exponenriellen Instabilität ist nicht die einzige - es gibt auch die Version der exponentiellen Stabilität. Diese definiert einen Zustand, in dem man von einem beliebigen Punkt aus immer wieder an den gleichen Punkt zurückkehrt. Die Ausgangsbedingungen, die ursprünglichen Besonderheiten sind unwichtig, alles tendiert zum Nullpunkt - auch er ein seltsamer Attraktor. ...

Diese beiden Hypothesen - exponentielle Instabilität und Stabilität - sind, wenn auch unvereinbar, gleichzeitig gültig. Unser System verbindet sie in seinem normalen Ablauf, seinem normalerweise katastrophischen Ablauf, in starkem Maße. Es verbindet in der Tat eine Inflation, eine galoppierende Beschleunigung, einen Mobilitätsrausch, eine Exzentrizität von Wirkungen und einen Exzeß an Bedeutung und Information mit einer exponentiellen Tendenz zur totalen Entropie. Unsere Systeme sind somit auf doppelte Weise chaotisch: Sie funktionieren gleichzeitig nach dem Modus von exponentieller Instabilität und Stabilität.

Es gibt somit kein Ende, weil wir uns in einer Übersteigerung des Endes befinden: überbeendet - in einer Überbietung aller Endlichkeiten: Transfinalität ...

Unsere komplexen, metastatischen und virenverseuchten Systeme, die allein der exponentiellen Dimension (ganz gleich, ob es sich nun um exponentielle Instabilität oder Stabilität handelt), der Exzentrizität und der unendlichen fraktalen Fortpflanzung durch Teilung ausgesetzt sind, können kein Ende mehr finden. Einem intensiven Metabolismus und einer intensiven inneren Metastase ausgesetzt, erschöpfen sie sich in sich selbst und haben sie keine Bestimmung, kein Ende, keine Andersheit und keine Fatalität mehr. Sie sind der Epidemie ausgesetzt, dem endlosen Wuchern des Fraktalen, und nicht der Reversibilität und der vollkommenen Lösung des Fatalen. Wir kennen nur noch die Zeichen der Katastrophe, wir kennen keine Zeichen des Schicksals mehr. (Hat man sich wohl deshalb in der Chaostheorie mit dem gegenteiligen, auch ganz außergewöhnlichen Phänomen der Hyposensibilität für Anfangsbedingungen, mit der umgekehrten Exponentialität von Wirkungen im Verhältnis zu Ursachen beschäftigt - mit den potentiellen Wirbelstürmen, die zum Flügelschlag von Schmetterlingen führen?) (Baudrillard 1994)

 - - Nach: Alan Sokal, Jean Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. München 2001

Ende

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