Schäferin  Der Himmel war für Nanou von sehr viel größerer Wichtigkeit als die Erde. Die Wiese, die Landschaft, der Horizont waren immer dieselben und immer gleich eng urn sie her. Das Wetter aber in diesem Rahmen wechselte unaufhörlich: «Die Sonne ist rot oder recht blaß: sie hat Fieber. Der Mond ist mehlbestäubt, honigfarben, oder er hat Rosenpommade aufgelegt. Die Sterne fallen in den Strauch: wie Heckenrosen, die sich entblättern. Der Himmel ist schwer oder leicht, mit Schäfchen bedeckt, klar wie Matinals Blick, stumpf wie der Augapfel eines rotzkranken Schafs.» Oder auch: «Heute gibt es keinen Himmel.» -«Wenn es Regen gibt, höre ich Trommeln vom Walde her; wenn es schön wird, sagen es mir die Glocken vom Gebirge voraus.» Sie hatte eine besondere Art, eine sehr schlichte, dies alles zu sagen, was für sie so voller Bedeutung war. Immer auf derselben Wiese saß sie, einmal hier, einmal dort, was zwar den Blickwinkel ein wenig veränderte, aber die Landschaft vor ihr blieb doch immer dieselbe: der Puy Maudit, der Wald von Les Normaux, der Weiher von Courtille und der Gaudie, die ihre Wiese umgaben; derselbe Horizont hielt sie seit achtzig Jahren in seinem unveränderlichen Kreis umschlossen. Aber der Himmel vor ihr wurde immer wieder ein anderer, als hätte Gott selbst, der Sternenhirte, zwischen Sonne und Mond sich auf der Wiese nebenan zurechtgemacht, um die Schäferin Nanou in ihrer Einsamkeit zu zerstreuen und ihr den Hof zu machen. Nanou lebte in naher Vertraulichkeit mit dem Himmel.

Wenn Gott zwischen Mond und Sonne den Himmel für sich hatte und all seine Sterne, so war es, als hütete die Schäferin Nanou zwischen Matinal und Coquette nicht nur ihre Schafe, sondern die ganze Erde.

Nanou konnte auch ein wenig hexen. Wenn Balsamine krank war, kam sie und sprach Gebete an ihrem Bett. Mit der Asche würziger Krauter, die sie vor dem Bett verbrannt hatte, zog sie das Zeichen des Kreuzes auf die Hände des Kindes. Bei jeder dieser Salbungen wiederholte sie: «Natu, mortu, sepultu, resurrectu, ascentu.» Man fragte sie, was das heißen solle; aber sie war nicht um die Antwort verlegen: «Wer weiß das schon? Gott weiß es, das genügt.» Balsamine wurde wieder gesund, und am Tage ihrer Genesung leierte Nanou unter den blökenden Tieren zur Danksagung dreißig Rosenkränze herunter.   - Marcel Jouhandeau, Die Schäferin Nanou. In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964

 

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