egenwurm Am Strand haben sie mit den Händen eine kleine Kute ausgehoben, und dahinein werden aus einem Sack mit schwarzer Erde die dicken Regenwürmer geschüttet; die lockere schwarze Erde und das Gewürm ergeben eine mulmige, ungewisse, anziehende Häßlichkeit im blanken Sande. Neben diese wird eine sehr ordentliche Holzlade gelegt. Sie sieht aus wie eine lange, nicht sehr breite Tischlade oder ein Zahlbrett und ist voll von sauberem Garn; und auf die andere Seite der Kute wird noch eine solche, aber leere Lade gelegt.
Die hundert Haken, die am Garn der einen Lade sitzen, sind manierlich auf eine kleine eiserne Stange an deren Ende gereiht und werden nun einer nach dem anderen heruntergenommen und in die leere Lade gebettet, deren Ende bloß mit reinem, nassem Sand gefüllt ist. Eine sehr ordentliche Beschäftigung. Zwischendurch sorgen aber vier lange, mager-kräftige Hände so sorgfältig wie Pflegerinnen dafür, daß auf jede Angel ein Wurm kommt.
Die Männer, die das tun, hocken auf Knien und Fersen zu zweien im Sande, mit mächtigen, knochigen Rücken, langen, gütigen Gesichtern, und einer Pfeife im Mund, und sie wechseln unverständliche Worte, die ebenso sacht aus ihnen hervorkommen wie die Bewegungen ihrer Hände. Der eine nimmt einen fetten Regenwurm mit zwei Fingern, holt die gleichen zwei Finger der anderen Hand hinzu und reißt ihn in drei Stücke, so gemächlich und genau, wie ein Schuster das Papierband abknipst, nachdem er Maß genommen; der andere stülpt dann diese sich bäumenden Stücke sanft und achtsam über die Angel. Ist das den Würmern widerfahren, so werden sie mit Wasser gelabt und in der Lade mit dem weichen Sand in kleine, zierliche, nebeneinander liegende Betten gebracht, wo sie sterben könne, ohne gleich ihre Frische zu verlieren.
Es ist ein stilles, feines Tun, wobei die groben Fischerfinger leise
wie auf Fußspitzen gehn. Man muß sehr auf die Sache achten. Bei schönem
Wetter wölbt sich der dunkelblaue Himmel darüber, und die Möwen kreisen
hoch über Land wie weiße Schwalben. - (
nach
)
Regenwurm (2)
Die Einsamkeit, sagte ich mir eines Tages, ist meine große Zuflucht. Und ich
überließ mich ihr, so wie ein Jüngling sich seiner ersten Liebe hingibt. Ich
dachte zum Beispiel, daß die Einsamkeit mich lehren würde zu sterben und daß
ich in ihrem Spiegel die ganze Erhabenheit Gottes erschauen könnte. Damals hörte
ich auf, ein Schmetterling zu sein, und verwandelte
mich in einen Regenwurm, in einen unterirdischen Arbeiter, der sich in der Dunkelheit
bewegen muß. Sie lächeln, Bautista? Verachten Sie die Regenwürmer? Sie tun unrecht.
Nicht allen Menschen ist Verachtung gestattet. Und falls Sie es nicht wissen,
so sage ich Ihnen, daß wenige Lebewesen bekannt sind, die nützlicher wären als
der Regenwurm. Er arbeitet ohne Eile noch Weile. Kraft der Muskulatur seines
Körpers kann er, ohne Hilfe von Kinnbacken oder Klauen, lange Tunnelgänge in
der Erde graben. In die Tiefe seines Schlupfwinkels transportiert er trok-kene
Blätter und verfaulte Stengel. Den ganzen Tag ißt er Erde, die er in seinem
langen Verdauungstrakt auflockert. Er vermischt die Erde mit Säuren, Salzen,
Fermenten, Vitaminen und Hormonen und scheidet sie wieder aus in Form von dünnen
Schlangenlinien. - (
marq
)
Regenwurm (3) Das
Kind steckt die Hand am Zaun in ein Erdloch und fühlt nach einem Regenwurm.
Er kommt und legt sich wie die Schnur, die es beim Mittagessen noch fest in
der Faust hielt, zwischen seine Finger. Das Kind schließt die Augen. Der Regenwurm
denkt mit jedem seiner Glieder. Nur so erträgt er es, von einem Spaten zerhackt,
von einem Wasserschwall ans grelle Licht gespült und von einem Haken durchbohrt
zu werden. Das Kind zieht den Regenwurm aus dem Loch und steckt ihn zusammen
mit-einem feuchten Blatt in eine Streichholzschachtel. - (raf)
Regenwurm (4) Der
Naturforscher Darwin hat darauf hingewiesen, daß es auf jedem Morgen
Land etwa 25000 Regenwürmer gibt, daß sie allein in England jährlich 320000000
Tonnen Erde bewegen und daß sie in fast jeder Region der Welt vorkommen. In
dreißig Jahren werden sie die gesamte Erdoberfläche bis zu einer Tiefe von 17,78
cm verändert haben. >Ohne Würmer<, sagt der unsterbliche Gilbert White,
>wäre die Erde bald kalt, verhärtet, 'ohne Gärung und folglich steril. -
T. H. White, Das Buch Merlin. Düsseldorf u. Köln 1982
Regenwurm (5) „Ich leite jetzt einen fachübergreifenden Fachbereich, der sich mit Regenwürmern befasst."
„Mit Regenwürmern?", frage ich.
„Na ja, der Bereich beinhaltet Würmer allgemein, Schnecken und andere bodennahe klebrige Weichtiere. Man würde doch niemals vermuten, dass der gemeine Regenwurm Verwendung als Kriegs- und Massenvernichtungswaffe finden könnte, oder?"
„Niemals."
„Und so ging es uns bis vor kurzem auch. Dann haben wir eine neue Art extrem widerstandsfähiger und fruchtbarer Regenwürmer entwickelt, dreimal so dick und zweimal so lang wie gewöhnliche und mit einem Reproduktionszyklus, der nicht nur dreimal kürzer ist, sondern auch dreimal so viele Nachkommen hervorbringt. Nehmen wir einmal an, wir infiltrieren das Ackerland des Feindes mit diesen extralangen Würmern, die, weil sie unter der Erde leben, vor sämtlichen Schädlingsbekämpfungsmitteln et cetera geschützt sind, außer solchen, die auch Pflanzen zerstören. Wegen der großen Anzahl an Tieren, die in kurzer Zeit produziert würden, sähe der Feind seine Felder zunächst außergewöhnlich hohe Erträge einbringen, weil die Regenwürmer die Erde fruchtbarer machen. Die langfristigen Folgen aber sind hochinteressant. Du hast bestimmt von Merala migratoria gehört."
„Nein", sage ich.
Er lehnt sich zurück, nimmt ein Stück Kreide und malt einen Vogel an die Tafel.
„Auf unserem Kontinent ist er üblicherweise als Rotkehlchen bekannt, was in Europa wiederum eine etwas andere Vogelart bezeichnet. Nichtsdestotrotz hat der Feind, wie du weißt, diesen Vogel wegen seiner roten Brust als Nationalvogel auserkoren, und die Fünf- und Zehnjahrespläne unterstreichen deshalb die Wichtigkeit, die Rotkehlchenpopulation zu vermehren, um mit denen gleichzuziehen, die momentan führend auf dem Gebiet sind. Aber zurück zur eigentlichen Geschichte. Wie du weißt, mögen Rotkehlchen Regenwürmer. Je größer, desto besser. Wir entwickeln derzeit eine sehr fruchtbare Linie von Rotkehlchen, dreimal so groß wie jedes Rotkehlchen, das heute bekannt ist. Nun, im ersten Jahr der Operation Regenwurm wird sich die Regenwurmpopulation im feindlichen Erdboden sprunghaft vervielfachen, was für eine knackige Rotkehlchenmenge im darauffolgenden Jahr sorgen wird, die natürlich von unserer neuen Art sein wird. Du hast zweifellos von Felis domestica oder Felis catus gehört?"
„Nein", sage ich.
Er malt etwas" auf die Tafel, was ich als Katze identifiziere.
„Besser bekannt als der gezähmte Karnivore, den wir Hauskatze nennen, die gemeine Hauskatze. Tatsache ist: Katzen fangen gern Rotkehlchen, und diese Situation wird noch dadurch gefördert, dass die Rotkehlchen auf den Boden kommen müssen, um sich die Regenwürmer zu holen, wobei unser Department auch an einem fliegenden Regenwurm arbeitet."
„Wozu?"
„Reine Abschreckung." - Stanley Crawford, Gascoyne. München 2018