Rabbiwahl  Vor dem Krieg hat sich in Radom herumgedreht ein Sohn vom Radomer Morch-Haura, dem Stellvertreter des Rebbe ohne Lehrauftrag, ein junger Mann wie alle jungen Leute. Keiner hat auf ihn achtgegeben, und keinem ist in den Sinn gekommen, daß dieser europäisch gekleidete Jüngling sollte ein Auge haben auf das Radomer Rabbinat. 1912 ist der Posten frei geworden, und damals ist zum Rabbiner gewählt worden der bekannte Zitelsohn, jetziger Kischner-Rebbe. Zitelsohn war schon unterwegs nach Radom. Aber er hat einen Drohungsbrief von Radom bekommen, daß er sich nicht soll wagen dahin und daß ein litauischer Rebbe nicht einnehmen darf eine Stelle in einer polnischen Stadt. Es hat sich herausgewiesen, daß der Schreiber des Drohungsbriefes war Jechiel Kestenberg, jener junge Mann in Radom, und hat auch gewußt, was er macht. Nach kurzer Zeit ist er bestimmt worden vom damaligen Gouvernement zum Stellvertreter eines Regierungsrebbes. Dies war der erste Schritt. Radom kocht, aber es hilft nichts. Nach einiger Zeit beweist sich der Kestenberg und legt an Kleider mit feiner Kapotte und führt sich auf als Radomer Rebbe. Im Krieg befestigt sich der Kestenberg auf dem Stuhl des Rabbinats, benutzt dabei alle Mittel. Sind gekommen die Österreicher, ist er geworden untertänig zu ihnen. Sind die Österreicher weg und die Russen kamen und für die Radomer Juden haben sich angehoben schwarze Tage, ist der Kestenberg auf die Bühne hinauf und predigt Strafe: Ich habe euch gewarnt, ihr sollt nicht mit den Österreichern anbandeln. Haben sich zu Ende die Österreicher doch befestigt in Radom, und der Rebbe ist alles in allem bei ihnen geworden. Die Österreicher haben sich bedankt für seine Leistungen und nominierten ihn als Rebbe. Der Krieg war zu Ende, und der Kestenberg hat angefangen zu trachten, daß es Zeit ist, nominiert zu werden von der wirklichen polnischen Macht. Ende 1920 wendet er sich mit einer Bitte nach Warschau, daß man soll ihn nominieren zum Radomer Raw. Aber das, was kein jüdischer Rebbe verstanden hat, verstand ein polnischer Minister. Er hat eine Antwort bekommen, daß nach den jüdischen Gesetzen darf ein Rebbe gewählt werden von der Gemeinde und nicht bestimmt von der Regierung. Und die Macht hat verordnet in Radom, daß man soll zusammentreten, zu wählen einen Rebbe. Es ist gegründet worden ein Wahlkomitee und war schon bereit zu Wahlen. Aber ein paar Wochen später ist angekommen Meldung aus Warschau, daß die Wahl wäre vertagt. Von Radom ist gleich eine jüdische Delegation nach Warschau gefahren und hat sich vorgestellt vor den Minister und gefragt, warum die Verordnung von Wahlen von der Regierung zurückgenommen ist. Als Antwort bekamen sie folgenden Bescheid: beim Minister hat sich damals gemeldet ein bekannter Radomer nationaldemokratischer Deputierter und hat den Minister informiert, daß der Rabbiner Kestenberg ist ein sehr zuverlässiger Mensch und dient treu der Regierung. Die Wahlen vom Rabbiner in Radom sind ein Schirm für jüdische revolutionäre Tätigkeit, die die Radomer Juden anfangen wollen, und so wie das Land ist im übrigen nicht ruhig ~ damals waren Streiks in Czenstochau -, darum war der Minister gezwungen, die Wahlen abzuberufen. Der Kestenberg und der Deputierte haben eine Hand gemacht, nicht zuzulassen, daß in Radom Wahlen kommen. Gleich darauf haben die Radomer Juden aller Parteien ein Memorandum an die Regierung geschrieben und haben hingewiesen auf die unnormale Lage, daß Radom keinen gewählten Raw hat, und auch auf die falsche Information und Verdacht auf die Radomer jüdische Gemeinde. Danach hat man vom Minister gemeldet, daß die Wahlen sind nicht abberufen, sondern nur abgelegt, und sobald Gemeindewahlen sein werden, wird auch Rabbinatswahl sein. Hat Gott geholfen, und es kam die Wahl zu der Gemeinde. Der Rabbiner Kestenberg hat angefangen zu arbeiten auf allen Seiten. Er hat eine eigene Liste herausgestellt, welche eine große Niederlage gehabt hat: von zweiundzwanzjg Gewählten waren nur drei von Kestenbergs Liste. Die Gemeinde hat sich konstituiert, es ist ausgewählt worden eine Verwaltung, und auf der ersten Sitzung der Verwaltung ist einstimmig angenommen worden, daß man soll zusammentreten zur Wahl eines Rabbiners in Radom. Der Beschluß der Verwaltung ist durch den Gemeinderat akzeptiert worden mit 16 gegen 2 Stimmen bei 4 Abwesenden. Auf den Beschluß hat die Gemeinde am 21. September eine Ausschreibung des Rabbinatspostens vorgenommen. Aber schon am 26. September hat sich in der Zeitung eine andere Meldung vorgefunden von drei Mitgliedern des Rats, daß Radom schon hat einen Raw, den genialen Jechiel Kestenberg. Um sich zu überzeugen, wer recht hat, ist genug durchzulesen die zweite Meldung, die veröffentlicht wurde durch Zeitungen am 3. Oktober, unterschrieben von dreißig Mitgliedern der Verwaltung und Rat: Radom verlangt einen gewählten Rabbiner, und die Wahlen werden unbedingt vorkommen. Es ist auch unterschrieben worden, daß, bevor die Radomer Gemeinde die zweite Meldung veröffentlicht hat, sich eine Delegation der Gemeinde gewandt an den Minister und hat ihn genau informiert über die Kestenbergsache und Radomer Wahlen. Darauf hat der Minister bestätigt, daß die Wahlen dürfen nicht abgelegt werden und daß Radom kann und darf wählen einen Rabbiner. Der Gaon Kestenberg aber schweigt nicht. Und wie er früher sich durch den nationaldemokratischen Deputierten bemüht, will er sich jetzt durch den Rabbinerverein bemühen, daß er ihn unter seine Flügel nehme. Der Verein der Rabbiner soll ein Verbot auf die Rabbiner Polens auflegen wegen Aufstellung ihrer Kandidatur. Er spart keine Zeit und gibt sich Mühe, durchzuführen seinen Plan und nicht zuzulassen die Wahl des Rabbiners, wenn auch die ganze Bevölkerung ausdrücklich verlangt hat, einen gewählten und nicht bestimmten Rabbiner zu haben. Wir wollen hoffen, daß der Rabbinerverein wird haben genug Verstand und sich nicht einmischen.   - Alfred Döblin, Reise in Polen. München 1987 (zuerst 1925)
 
 

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