abbi   — ... Alles ist sterblich. Ewiges Leben beschieden ist nur der Mutter. Und ist die Mutter nicht mehr am Leben, so hinterläßt sie eine Erinnerung, die noch niemand gewagt hat zu schänden. Das Andenken an die Mutter speist in uns das Mitgefühl, wie der Ozean, der unermeßliche Ozean speist die Flüsse, die das Weltall durchschneiden . ..

Dies waren die Worte Gedalis. Er sprach sie in großem Ernst. Der erlöschende Abend umgab ihn mit dem rosigen Rauch seiner Trauer. Der Alte sagte:

— Im leidvollen Gebäude des chassidischen Glaubens sind die Fenster und Türen herausgerissen, aber es ist unsterblich, wie die Seele einer Mutter ... Mit ausgestochenen Augen steht der chassidische Glaube noch immer am Kreuzweg der grimmigen Winde der Geschichte.

So sagte Gedali und brachte mich, nach dem Gebet in der Synagoge, zu Rabbi Motale, zum letzten Rabbi aus der Dynastie von Cernobyl.

Wir gingen, Gedali und ich, die Hauptstraße hinan. Weiß erstrahlten die Kirchen in der Ferne, wie Buchweizenfelder. Ein Lafettenrad stöhnte hinter einer Ecke. Zwei schwangere Ukrainerinnen traten vors Hoftor, klirrten mit ihren Münzhalsketten und setzten sich auf die Bank. Der zaghafte Stern entzündete sich in den orangeroten Scherben des Sonnenuntergangs, und Friede, der Friede des Sabbat setzte sich auf die schiefen Dächer des Zitomirschen Ghettos.

— Hier, — flüsterte Gedali und zeigte auf ein langgestrecktes Haus mit zerschossener Fassade.

Wir betraten einen Raum — steinern und leer, wie ein Leichenschauhaus. Rabbi Motale saß am Tisch, umgeben von den Besessenen und Lügnern. Er trug die Zobelfellmütze und einen weißen, mit einer Schnur gegürteten Chalat. Der Rabbi saß mit geschlossenen Augen und wühlte mit hageren Fingern im gelben Flaum seines Barts.

— Woher kommt er Jude? — fragte er und hob die Lider.

— Aus Odessa, — antwortete ich.

— Eine verehrungswürdige Stadt, — sagte der Rabbi plötzlich mit ungewöhnlicher Kraft, — Stern unserer Verbannung, unfreiwilliger Quell unseres Elends . .. Was treibt er Jude?

— Ich übersetze in Verse die Abenteuer des Hersch von Ostropol.

— Eine große Mühe, — flüsterte der Rabbi und senkte die Lider. — Der Schakal stöhnt, wenn er hungrig ist, jeder Dummkopf besitzt Dummheit genug, um trübselig zu werden, nur der Weise zerreißt durch ein Lachen den Schleier des Daseins .. . Was hat er studiert Jude?

— Die Bibel.

— Was sucht er Jude?

Heiterkeit.

— Reb Mordchej , — sagte der Zaddik und schüttelte den Bart, — möge der junge Mensch Platz nehmen am Tisch, möge er essen an diesem Sabbatabend mit den anderen Juden, möge er sich freuen, daß er am Leben ist und nicht tot, möge er in die Hände klatschen, wenn seine Nachbarn tanzen, möge er trinken den Wein, wenn sie ihm geben werden Wein ...

Und auf mich zu sprang Reb Mordchej, ein alter Narr mit wulstigen Lidern, ein bucklicht Männlein, kaum größer als ein zehnjähriger Junge.

— Ach, mein teurer und so junger Mensch, — sagte der zerlumpte Reb Mordchej und zwinkerte mir zu, — ach, wieviele reiche Dummköpfe habe ich gekannt in Odessa, wieviele weise Bettler habe ich gekannt in Odessa. Setzt euch zu Tisch, junger Mensch, und trinkt den Wein, den sie euch nicht werden geben ...

Wir nahmen alle nebeneinander Platz, — die Besessenen, die Lügner und die Maulaffenfeilhalter. In einer Ecke stöhnten über den Gebetbüchern breitschultrige Juden, die aussahen wie Fischer und wie Apostel. Gedali in seinem grünen Gehrock lehnte dösend an der Wand, wie ein bunter Vogel. Und plötzlich sah ich einen Jüngling, in Gedalis Rücken, einen Jüngling mit dem Gesicht Spinozas, mit der mächtigen Stirn Spinozas und dem kränklichen Gesicht einer Nonne. Er rauchte und zuckte unentwegt, wie ein Flüchtling, den man ins Gefängnis zurückgebracht hat nach langer Verfolgungsjagd. Der zerlumpte Mordchej aber schlich sich von hinten an ihn an, riß ihm die Papyrosa aus dem Mund und kam zu mir gelaufen.

— Das ist der Sohn des Rabbi, Ilja, — krächzte Mordchej und wandte das blutige Fleisch seiner wulstigen Lider mir zu, — der verfluchte Sohn, der letzte Sohn, der ungehorsame Sohn... ,

Und Mordchej drohte dem Jüngling mit dem Fäustchen und spie ihm ins Gesicht.

— Gesegnet sei der Herr, — ertönte da die Stimme des Rabbi Motale Braclawski, und er brach mit seinen Mönchsfingern das Brot, — gesegnet sei der Gott Israels, der uns auserwählt hat unter allen Völkern der Erde ...

Der Rabbi segnete die Speise, und wir setzten uns an die Tafel. Vor dem Fenster wieherten Pferde und schrieen Kosaken. Die Wüste des Krieges gähnte vor dem Fenster. Der Sohn des Rabbi rauchte eine nach der anderen inmitten des Schweigens und des Gebets. Als das Abendbrot zu Ende war, erhob ich mich als erster.

— Mein teurer und so junger Mensch, — murmelte Mordchej in meinem Rücken und zupfte mich am Gürtel, — wenn es gäbe niemand auf der Welt, außer bösen Reichen und armen Bettlern, wie würden dann leben die heiligen Menschen?

Ich gab dem Alten Geld und trat auf die Straße. Gedali und ich trennten uns, ich ging zu mir nach Hause auf den Bahnhof. Dort, auf dem Bahnhof, im Agitzug der I. Reiterarmee, erwartete mich das Strahlen von Hunderten von Lichtern, der Zauberglanz der Radiostation, der unermüdliche Lauf der Maschinen in der Druckerei und der nicht zu Ende geschriebene Artikel für die Zeitung »Roter Kavallerist«.  - Isaak Babel, Die Reiterarmee. Berlin 1994 (Friedenauer Presse, neu übs. von Peter Urban, zuerst 1926)

Rabbi (2)  Rabbi Hering, der Reuevolle, war ein nicht beamteter Prediger, den man gern zu Trauergottesdiensten in Privathäusern zuzog, weil er ein eigenes Talent für wohlgesetzte Nachrufe besaß. Er war ein großer, massiger Mann mit überquellendem Bauch und rotem Bart, und seine geistlichen Tröstungen ließen kein Auge trocken. Seine Kunden wußten, daß er sich in seinem Privatleben der Völlerei ergab und nur im Punkt der Wohltätigkeit Enthaltsamkeit übte, doch das war eine andere Sache. Als Trauerredner war er nicht zu übertreffen: er war zuverlässig und pünktlich, ließ die Versammlung nicht warten und wußte höchst eindrücklich darzulegen, daß in Gilead noch Balsam zu finden ist.

Um dies zu beweisen, hatte er fünf verschiedene Ansprachen parat; die engere Wahl hing von den jeweiligen Umständen ab. Wenn er, was nicht selten vorkam, den Abgeschiedenen gar nicht gekannt hatte, erkundigte er sich draußen im Vorzimmer: «Mann oder Frau? Knabe oder Mädchen? Verheiratet oder ledig? Kinder vorhanden? Kleinere oder größere?»

Sobald diese Fragen beantwortet waren, war er bereit und wußte genau, welche seiner fünf Trostreden am Platze wäre. - Israel Zangwill, Der König der Schnorrer. München 1994 (zuerst 1894)

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