Moralkasuistik  Kasuistische Frage: ‹Wenn jemand daran zweifelt, daß er 21 Jahre alt ist, muß er dann fasten? Nein l Aber wenn ich eine Stunde nach Mitternacht 21 Jahre alt werden sollte, und wenn morgen Fasttag ist, muß ich dann morgen fasten? Nein, denn Sie können von Mitternacht bis ein Uhr so viel essen wie Sie wollen. Also: da Sie das Recht haben, das Fasten zu brechen, so sind Sie dazu nicht verpflichtet.› Weiter: ‹Es ist erlaubt, die wenig« wahrscheinliche Meinung für richtig zu halten, obwohl sie wenige] sicher ist.» ‹Auf diese Weise›, stellt Pascal fest, ‹kommen wir zu einei schonen Gewissensfreiheit.› Töten oder Stehlen ist auch für den Christen, je nach Fall und Umständen, erlaubt. Das ist juristisch eine Binsenweisheit, aber es kommt darauf an, wo die Grenzen gezogen sind. Durch Konstruktion von sophistischen Milderungsgründen ergibt sich am Ende eine pseudo-legale Anarchie. In dem Sinne erregte vor allem das Werk von Thomas Sanchez (1551 — 1610) ‹De Matrimonio› (Über die Ehe) Pascals Zorn, und nicht nur er fand es nicht zitierfähig. Deswegen wenigstens einige weniger delikate, dafür nicht minder bezeichnende Beispiele: ‹Die Güter, die eine Frau durch Treubruch gewinnt, sind auf illegitimem Wege erworben worden, dennoch ist ihr Besitz Iegitim.› (Typische Verwechslung von weltlichem Recht und christlicher (!) Morallehre.) ‹Güter, die man durch Sünden erwirbt, wie Mord, ungerechtes Urteil, unehrenhafte Handlung usw., sind legitimer Besitz. Man braucht sie nicht zurückzuerstatten. › (Hier ist eine Adaption an weltliche Rechtspraxis schon gar nicht mehr möglich.) Essen und trinken darf man nach Herzenslust bis kurz vor dem Erbrechen, ‹denn der Naturtrieb hat das Recht, seine ihm gemäße Erfüllung zu finden›. Das scheirit <normal›, aber von der kirchlichen Tugendlehre (Mäßigung) aus gesehen, ist dieser Satz schon eine Hyper-Absurdität; gerade er wurde daher 1679, 22 Jahre nach dem Erscheinen der Kampfschrift Pascals, von Innozenz XI. verurteilt.

Pascal bezeichnete diesen Satz Escobars als den ‹passage le plus complet›, als eine zentrale Formel des kasuistischen Laxismus. Nicht minder ‹irregulär› ist aber auch der berüchtigte Satz des Kasuisten Sanchez über den Eid; ‹Man kann schwören, daß man etwas nicht getan hat, obwohl man es wirklich begangen hat, wenn man sich selbst sagt, daß man diese Tat an einem bestimmten Tage oder bevor man geboren wurde (!) nicht begangen habe, oder, indem man irgendeinen anderen Umstand zum heimlichen Vorbehalt macht, darauf achtend, daß die Worte, die wir dabei benutzen, so ingeniös sind, daß man diesen (vorbehaltlichen) Umstand nicht ahnen kann. Das ist in vielen Situationen sehr bequem, und es ist immer sehr richtig und nützlich für die Gesundheit, für die Ehre, für das Wohl.›

Versprechen›, stellt Escobar vulgär-machiavellistisch fest, verpflichten nicht, wenn man nicht die Absicht hat, sich zu verpflichten, wenn man sie macht.› - Blaise Pascal u.a. nach Gustav René Hocke, Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst. Reinbek bei Hamburg 1969 (rde 82/83, zuerst 1959)

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