lüchtling   Ich spreche nicht von den Fällen, wo die Flüchtlinge sich Übergriffe erlaubten und unverschämt fordernd auftraten. Gewiß, aber viele vertraten den Standpunkt: Wir haben alles verloren, nun gebt uns bitte die Hälfte von dem euren ab! und legten die Hände in den Schoß. Und auf der Gegenseite gab es genug Menschen, die dachten: Wir sind nicht schuld daran, was geht es uns also an? Und wenn sie etwas gaben, dann nur aus Angst. Ja, vielleicht war diese erbärmliche Tatsache, daß sich die Verschonten von vornherein beneidet fühlten, erst der Anlaß, daß der Neid in den Flüchtlingen aufglomm und allmählich wuchs. Und, man wird es kaum glauben, es kam sogar dazu, daß man die Flüchtlinge um die wenigen neuen Sachen beneidete, die sie geschenkt erhielten oder der Staat ihnen zur Verfügung stellte. Oder - aber diese Frage stelle ich erst heute - sollte dies noch einen tieferen Grund haben?

Beneidete man die, die den Absprung ins Nichts bereits hatten wagen müssen, um dieses Es-bereits-hinter-sich-Haben, was allen bevorstand? - Hans Erich Nossack, Der Untergang. Frankfurt am Main 1987 (zuerst 1948)

Flüchtling (2)

Flüchtling (3)  Das ältliche Nachbarehepaar rief mich, Herr Achternhusch, ob ich wüßte, die Roths, Dr. Roth, das ist der Dr. zu Beginn von INDIO und der Neger, der Ibo, am Schluß von meinem AFGANISTAN. Sie waren eineinhalb Jahr vor uns von Starnberg weggezogen. Ich erinnere mich, einmal ungewollt gedacht zu haben, als Frau Roth vom Briefkasten zurückging; Aha so einen federnden Gang bekommt eine, wenn sie von einem Neger gebumst wird. Der Ibo war äußerst freundlich, tollpatschig und konnte übers ganze Gesicht lachen. Mit Herrn Dr. Roth habe ich mich oft unterhalten, damals während des Krieges um Biafra. Die Eltern des besagten Negers sind wahrscheinlich umgekommen, jedenfalls hat er von ihnen nichts mehr erfahren. Er ist den ganzen Tag auf seinem Zimmer gewesen, nur abends um halb 6 oder 7 ist er für eine halbe Stunde weggegangen. Soviel ich weiß, wollte er in Fernkursen das Abitur machen und Medizin studieren. Das Abitur hat er nach der Nachbarin »niemals geschafft«. Als Untermieter zog er mit den Roths aus. Ich weiß nur noch, daß die Frau Roth schwanger war, als sie wegzogen. Der Möbelwagen war ein weißer und ragte über die Hecke hinaus, die ich doch sehr hoch werden ließ. Inzwischen haben wir gegessen und die Verdauung wird mir voraussichtlich so viel Kraft entziehen, daß ich vielleicht nicht mehr so zu Ende komme, wie ich mir das vorstellte. Wenn Briefempfänger erzählen, daß ihnen Leute ptngelig von Ereignissen schrieben, für die sie, die Empfänger, doch gar nicht so großes Interesse aufbringen könnten, wie das der Schreiber annimmt, so habe ich dafür kein Verständnis. Und Herr Dr. Roth hätte dem Kind seinen Namen gegeben, da es offensichtlich das Kind des Negers war. Haben Sie das nicht in der Zeitung gelesen? Ich verneinte; ich hatte nichts mitbekommen. Ob ich die Ausschnitte wollte? Nein - ich weiß nicht mehr, wie ich die Ablehnung begründete. In der BILDzeitung sei es groß gestanden, aber auch in anderen, in allen Zeitungen, mit Namen; auch bei ihnen sei die Polizei dagewesen und habe gefragt. Die Frau sei immer so stolz auf ihre Herkunft gewesen und dann habe sie ein Kind von einem »Neger« bekommen! Nun, letzten Mai hat dieser Neger Herrn Dr. Roth die Kehle durchgeschnitten, sie machte dazu die entsprechende Geste, hatte der Frau mit dem Hammer die Stirn eingeschlagen und der Hausherr hörte wohl Geräusche, Frau Roth hatte geschrien - das Kind erwürgt. Es blieb mir undeutlich, ich wollte es nicht wissen und sagte schon Aufwiedersehen, ob die Frau nach Frankfurt wollte und der Neger aber mit ihr nach Nigeria. Am nächsten Morgen sei er zurückgekommen, weil er seinen Paß vergessen habe. Ich werde damit nicht fertig und habe gestern früh die gesamte Familie mißhandelt; zu meiner Frau sagte ich: Du Kadaver, wann löst du dich endlich m Luft auf. Das ist nicht meine ausgemachte Bosheit, das sind die Gedanken mit ihren eigenmächtigen Wegen.   - Herbert Achternbusch, L'Etat c'est moi. Frankfurt am Main 1972

Flüchtling (4)  Wir haben die beiden nie ertappt. Wir haben sie nur abends raunzen gehört, wenn wir unter Resis Zimmer gestanden sind. Dann ist der Flüchtling verreist. Für mich, sagte meine Großmutter, hat die Resi den Ranzen voll. Wie ich einmal früh in die Schule fahre, hat es beim Nachbarn nach Blut gestunken. Auf einer Holerstaude unter Resis Zimmer sind blutige Fetzen gehängt, mit denen Resi die Blutung stillen wollte und die sie in Angst zum Fenster hinausgeworfen hat. Sie hat eine Abtreibung versucht und wäre beinah verblutet. Der Doktor ist gekommen und sie sind gekommen und haben sie versehen. Nach einigen Wochen ist der Flüchtling zurückgekehrt und hat die alte Rita überredet, daß sie ihm Marga zur Pflege seiner Mutter gab. Resi hat da schon in der Stadt gearbeitet und einen Freund vom Bundesgrenzschutz gehabt, gesund soll sie nicht sein. Als mich der Flüchtling am Hawe wieder einlud, seine Bücher zu besichtigen, willigte ich ein. Das war so über mich gekommen. Ich ließ ihm auch mein Rad schieben. Von meiner Großmutter war es mir nicht erlaubt, jemals auf die Wohnung des Flüchtlings zu gehen, das sagte ich ihm und, daß ich verstohlen in der Nacht kommen müsse. Das ist heuer im Sommer gewesen. Er bekam ein breites Gesicht und sagte in einem fort Susanne. Ich weiß nicht, er erinnert mich an Goethe, wir haben eine Abbildung im Lesebuch. Nicht das Gesicht, aber die Triefaugen, die der Flüchtling auch hat. Vielleicht -wollte ich wissen, was einer, der sich so gewählt auszudrücken weiß, für ein Mensch sein muß, daß er das nötig hat. Ich bin nie solang vorm Spiegel gestanden wie diesen Abend. Im Spiegel wollte ich sehen, wie dieser alte Affe seine Liebeskunst anwendet und ob er mir alles sagt, was in Goethes Lehrjahren steht. Aber ich wollte ihn erstechen, sobald er neben mir schliefe. Mein Bruder hat mir einmal nach den Ferien sein finnisches Taschenmesser geschenkt. Die Polizei war mir nicht drauf-gekommen. Ich habe einmal Jonatan mit der Axt gesehen, er stand hinter Stauden, vor denen der Flüchtling oft auf einem Stein sitzt und sein Geschlecht sonnt. Jonatans einziger Sohn ist im Krieg gefallen. Jonatan: Mein Bub hat der Ruß erschossen und den Flichtling soll der Deifi holen, weil er meine Derndln verdirbt. Das haben ihn mehrere sagen hören. Das ist das einzige, was ich bereuen kann, weil meine Absicht sich nicht verwirklichen ließ. - (acht)

 

Fliehen Krieg Vertreibung

 


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