Essenz  Er versetzte die unheimliche Flüssigkeit im Glas in eine kreisende Bewegung, und ich sah sie im Licht funkeln, fortwährend ihre Färbung von seifigem Milchweiß in Wasserklarheit verlieren, um sofort wieder aufzuschäumen. - Denn dieser Saft hier, redete er lächelnd weiter, ist ein ganz ungewöhnlicher Saft. Sie müssen wissen, daß er eine Essenz ist aus dem... Knochenmark der Unterirdischen... natürlich nicht Knochenmark, sondern aus dem Mark der Subterrania. Verträglich ist das Zeug nur in Gegenwart der Subterrania. Wenn Sie nämlich in Besitz ihres Geists sind, sozusagen in Besitz des Leichnams, der für das Experiment in Frage kommt, so wird der Genuß dieses guten Tropfens bewirken, daß Ihnen der lebendige Geist des oder der Abgeschiedenen erscheint. Und Sie können die Flasche nachher mitnehmen. Wenn aber, wie bei mir der Fall, der Geist der Toten abwesend und unter der Erde ist, bringt mich das Getränk auch dorthin... so einfach ist es... die Blume und ihr Saft, der Geist und der Körper gehören zusammen... zum Wohl.  - (hilb)

Essenz (2) Es bilden das SYSTEM zuallererst die FEUER, sie besetzen, durcheilen und kennzeichnen zu zweit bis zu siebent den Raum in der Mitte; weswegen sie auch ESSENZEN genannt werden. Die FEUER oder ESSENZEN sind nicht an zwangsläufige Bewegungen gebunden; sie bewegen sich daher bald auf regelmäßige bald auf unregelmäßige Weise, nicht selten im Kreise, häufig stehen sie vollkommen still. Die ESSENZEN haben keine festgelegte oder genau definierte Gestak-, ihr geistiges Vorbild scheint die Kugel zu sein, aber keine nimmt diese Gestalt an: sie entfernen sich davon in den verschiedensten Launen, deswegen gibt es längliche ESSENZEN, runde mit gezacktem Rand oder mit abgeplatteten Polen, sogar dermaßen entstellte, daß man annehmen könnte, sie würden an einer Krankheit leiden. Man bedenke dazu: welche Gestalt auch immer eine ESSENZ in einem beliebigen Augenblick annehmen mag, sie bleibt durchaus stets veränderlich; manchmal ergibt sich so etwas wie Handelsgeschäfte, da zwei oder mehr ESSENZEN miteinander um Gestalten feilschen. In jedem beliebigen System geschieht es nicht selten, daß sich die ESSENZEN zusammenballen, aneinander reihen und sich verdichten, so daß zwei oder drei oder auch sieben, wenn so viele überhaupt da sind, auch etwas bilden können, das wie ein einziges Feuer aussieht. Dieser extreme Zustand, wo alle FEUER sich zusammentun, um eine einzige ESSENZ zu bilden, ist beinahe eine Rarität und deutet vielleicht auf eine nicht ausmerzbare Krankheit des gesamten Systems hin. Sobald nämlich alle FEUER zu einem einzigen zusammenschmelzen, verschwindet jener muntere Zwist der FEUER, kraft dessen sie imstande sind, zahllose, wechselvolle Formen zu zeichnen und untereinander Zwiegespräche zu führen. Keine ESSENZ gleicht nämlich der anderen, sie sind einander sogar unerträglich; sobald sie scheinbar zu einer ESSENZ zusammenschmelzen, entstehen daher widersprüchliche LICHTER; unter LICHTERN verstehe ich die wie auch immer gearteten Botschaften, welche die ESSENZEN in alle Richtungen aussenden. Der zusammengesetzte Zustand ist also nicht selten angstvoll, stets beschwerlich, nur nach außen hin voll Liebe. Zuinnerst jedoch voll Zorn und Empörung. Wenn dieses Zwangskonkubinat auseinanderfällt, sich völlig auflöst, fliegen die FEUER weit auseinander, mitunter so weit, daß eine Zeitlang keine Unterhaltung von FEUER zu FEUER mehr möglich ist, bis schließlich die beklemmende Enge des häuslichen Widerspruchs vergessen ist. Und da die FEUER anscheinend eine gewisse Grenze nicht überschreiten können, nehmen sie nach einiger Zeit zwangsläufig ihre sogenannte Unterhaltung wieder auf. Die Gespräche der ESSENZEN sind die meiste Zeit langsam, umsichtig, kostbar und vorsichtig, aber nicht selten haben sie einen Hang zum Feindlichen oder zumindest zum Gehässigen, gewalttätig aber werden sie nie. Sie sprechen miteinander, indem sie, wo es geht, ihre Gestalt verändern und die LICHTER auf Umwege schicken. Kranke oder sonstwie heruntergekommene ESSENZEN können ihre Gestalt nicht verändern, sie sind an eine einzige gefesselt, was niederdrückend für sie ist; an die Stelle der LICHTER treten dann die SEUFZER. Aber eine kranke ESSENZ weilt in einem peripheren Raum und hat keine anderen ESSENZEN, mit denen sie sprechen könnte.

Dennoch ist es nicht möglich, daß eine ESSENZ den Tod erleidet; wenn daher eine ESSENZ von einer Krankheit befallen ist, die, da sie unheilbar ist, ewig erscheint, rücken alle FEUER kurz und dicht zusammen, wobei das kranke FEUER mitten unter die anderen gedrängt und auf nicht klare Art und Weise unter die unversehrten Feuer verteilt wird: so daß die erkrankte ESSENZ sich auflöst und ihr Siechtum zu gleichen Teilen an die überlebenden ESSENZEN weitergibt, wo es sich bald als Riß bald als Auswuchs zeigt: als dem Feuer des FEUERS beigemischter Frost, als Streifen luftiger Flüssigkeit, welche die ESSENZEN auf ihren Wegen als Spuren hinterlassen.  - Giorgio Manganelli, System. In: G.M., Brautpaare und ähnliche Irrtümer. Berlin 1997 (Orig. 1996)

 

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