Ueber-Organismus   Weder Wissenschaft noch Politik, schon gar nicht Kunst oder Religion haben in diesem Jahrhundert etwas Vergleichbares vorzuweisen, etwas so Komplexes und Hochentwickeltes, eine beinahe schon übermenschliche Erzeugung wie es dieses unfaßliche, allmächtige Gemeinwesen ist. Was aber ist das für ein Wesen? Hat es nicht all unsere schöpferischen Kräfte in Anspruch genommen? Haben wir nicht viel, vielleicht allzuviel von unserem Besten und Innersten gegeben, um es gut ernährt aufzuziehen? Manch persönliche hervorragende Tugend fiel ihm zum Opfer; viel an Mut, Liebe, Unternehmungsgeist und Gelassenheit gaben wir hin, um dafür Angst, Leere, Unbeständigkeit einzuhandeln. Haben wir also einen Halbgott oder einen unersättlichen Dämon erschaffen? Wie auch immer, dies grandiose und einzigartige Gebilde einer freien Massengesellschaft hat sich längst über unsere Köpfe erhoben, es ist tausendmal >klüger< als wir selbst, und nicht das geeinte Wissen aller Experten, Politiker und Weisen der Erde würde hinreichen, um diesen Über-Organismus auch nur annähernd zu verstehen, geschweige denn ihn mit überlegenem Bewußtsein steuern zu können.

Man darf wohl sagen, um einem Wesen der höheren Intelligenz zu begegnen, müssen wir nicht in den fantastischen Romanen lesen und brauchen wir nicht auf den biologischen oder maschinellen Übermenschen zu warten. Ein solch geheimnisvoller Gast umgibt uns bereits als der mutierte Souverän, als die offene und freie Gesellschaft. Ihrer Intelligenz sind wir zwar selber teilhaftig., jedoch nur mit der Vernunft von Eingeweihten, die ihren Kult vollziehen, ohne ihn erklären zu können. Eine Geheimgesellschaft, sich selber geheim, und wir so mittendrin, so tief versunken schon in ihre rationalen Zwecke und Spiele, daß ein Menschenhirn wohl nicht mehr über ihre Regeln hinausschauen oder sich erheben könnte. Vor noch nicht allzu langer Zeit hat man von der >Entzauberung der Welt< durch den wissenschaftlichen Geist gesprochen. Nun, in Wahrheit haben wir unterdessen nur um wenig mehr Einblick genommen in die komplexe Ordnung der Dinge, und es hat bereits genügt, daß sie sich uns erneut bezaubert haben. Das Wissen hat unser Staunen nur um eine Drehung erhöht.«

Ein ganz ähnlicher Gedanke sei ihr wohl auch schon gekommen, warf die stille Almut ein. Wäre nicht das Ganze unseres Zusammenlebens vielleicht ein beschwörendes Ritual, uns unbewußt, um irgendeiner Gottheit, von der wir bisher weder Bild noch Ahnung besitzen, zu genügen und schlafwandelnd ihren Schutz zu erwirken?

»Und all die schrecklichen Unfälle auf den Straßen sind mir schon immer wie moderne Ritualmorde vorgekommen«, ergänzte Yossica, das junge Mädchen, doch Reppen-frjes warf ihr einen argwöhnischen Blick zu, ob sie sich etwa über ihn belustige.   - Botho Strauß, Der junge Mann. München 1984

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