Traditionalist  Ich lese den Artikel eines katholischen Schriftstellers aus Frankreich über den Tod von Kardinal Danielou 1.

Er zögert, das Kind beim Namen zu nennen. Er weiß nicht, ob er »diesen schweren Schlag für die französische Kirche« der geringen Widerstandskraft des dahingeschiedenen Kardinals gegen die Versuchung zuschreiben soll, oder der Erotomanie unserer Zeit, oder dem Volk, das mit zunehmender Entfernung vom Christentum immer größere Ansprüche an die Priester stellt, oder aber dem Mangel an Liebe in unserer, Welt. Ich habe das Gefühl, daß er sich allzu sehr ereifert, denn dies ist nur einer von vielen Fällen in der Kirche Frankreichs, Italiens, Spaniens ... Die Erotomanie unserer Gesellschaft hat überhaupt nichts damit zu tun, oder wir müßten auch die Erotomanie des Früh- und des Spätmittelalters, der italienischen Renaissance, des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich, der spanischen Kolonien, der Regierungszeit Napoleons III. bis zu der Petains anführen - mit einem Wort, die Erotomanie aller Zeiten und Länder der katholischen Welt. Es stimmt auch nicht, daß das Volk mit zunehmender Entfernung vom Christentum immer größere Anforderungen an die Priester stellt. Es stand dem Christentum schon fern, als es noch keine Ansprüche stellte, ja, es war vom Christentum gerade deswegen abgerückt, weil es keinerlei Ansprüche an die Priester, Bischöfe und Kardinale stellen konnte.

Nun, wenn ich Katholik wäre, würde ich mich durch den Fall des Kardinals Danielou eher befreit als gekränkt fühlen, hat er doch die bis heute ungebrochene Tradition des »tut, was ich sage, tut nicht, was ich tue« fortgesetzt. Da ich kein Katholik bin, bekenne ich hier meine volle menschliche und christliche Sympathie für diesen Mann.

1 Der Kardinal starb nach einem Besuch bei einer Prostituierten. (A.d.Ü.)    - (scia) 

Traditionalist (2)  Ich kannte einen gutmütigen Kerl, der während des Krieges nicht ein einziges Mal nüchtern war, das heißt von August bis Januar, und der in einem der letzten Gefechte getötet wurde, ohne je sein Gleichgewicht wiedererlangt zu haben.

Er hieß Latour oder Dufour oder so ähnlich, man rief ihn aber immer nur bei seinem Vornamen Bertrand, weil der sich besser herausschreien ließ; aber der alte Kauz täuschte für gewöhnlich vor, ihn nicht zu hören.

Er war Traditionalist, dieser Kerl! Nichts hätte ihn von der Überzeugung abbringen können, dass der Durst der Begleiter des Soldaten ist und dass es in enthaltsamen Gesellschaften keine guten Fußsoldaten geben kann.

Seit dreißig Jahren tingelte er über alle Kriegsschauplätze — er war über Fünfzig und fast überall im Einsatz gewesen — und hatte immer die Möglichkeit gefunden, an Flüssiges heranzukommen, sei es in Städten oder in Wüsten.

Zu allen kühnen Taten bereit, wenn es darum ging, »sich die Öffnung mit der Flasche zu reinigen«, hatte er überwältigende Dinge vollbracht, legendäre Freibeutertaten, nur um beim Trinken nicht außer Übung zu geraten.

Er kämpfte dann wie tastend und mit umso größerer Rage, weil er immer drei Feinde anstatt von einem sah und sich selbst wegen dieser optischen Täuschung vervielfältigen musste. Selbst eine ganze Division würde ihm keine Furcht einflößen, wenn sie sich zwischen seinem Schnabel und irgendeiner Flasche aufgestellt hätte — er hätte sogar versucht, sie zu durchbrechen.

Die Anführer nutzten diesen wundervollen Suffkopf manchmal aus, aus Aberglauben — ihn, der seit einem Vierteljahrhundert aufmuckte, ohne abzustürzen, den die Kugeln nie erreichten und der auf seinem Weg alles zerstörte.  - Léon Bloy, Blutschweiß. Berlin 2011 (zuerst 1893)

 

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