Therapiewechsel   Was wußten die schon? Als Hector zum erstenmal eingeliefert worden war, hatte man eine homöopathische Behandlung verordnet und ihn auf eine retinale Diät aus Videoclips von wissenschaftlich berechneter Kürze gesetzt, die, nach dieser Theorie, in voller Dosierung seine geistige Gesundheit zerstört hätten. Auf diese Weise sollten seine natürlichen Abwehrkräfte aktiviert und gestärkt werden. Wegen seines gefährlichen Verhaltens, das, wie die Ärzte erst später feststellten, ein normaler Teil seiner Persönlichkeit war, begannen sie die Therapie jedoch übereilt, ohne alle notwendigen Tests vorgenommen zu haben, und berechneten die Dosis falsch. Wer hätte ahnen können, daß Hector so abnorm sensibel war, daß schon eine Stunde minimaltoxischen Fernsehkonsums mehr als genug war, um in ihm ein verzweifeltes Verlangen nach mehr zu wecken? Nachts schlich er sich aus der Station, urn auf die heimliche Suche nach einem eingeschalteten Fernseher zu gehen, um hemmungsloser als je zuvor in den Strahlen zu baden, den Strom der Bilder aufzulecken und aufzusaugen. Er arrangierte konspirative Treffen im Schatten von Fensternischen und verschwiegenen Pavillons, bei denen gewissenlose  Pfleger unter ihren Kitteln winzige, illegale, hereingeschmuggelte LCD-Fernseher hervorzogen, die sie zu exorbitanten Preisen vermieteten und bei Morgengrauen wieder einsammelten. Wenn die Lichter gelöscht waren, sahen alle Suchtpatienten, die es sich leisten konnten, unter ihrer Bettdecke das Abendprogramm der Sender, die man über Antenne empfangen konnte: sämtliche landesweiten Sender plus die vier Privatstationen aus Los Angeles. Als Hector das Geld ausging, waren die Homöopathen in Ungnade gefallen, und Doc Deeply, Anführer einer Phalanx von mit der unbezwingbaren Blasiertheit ihrer Philosophie gepanzerten New Age-Wissenschaftlern, hatte das Kommando übernommen und eine neue Politik verkündet: Fortan sollte jeder so viele Sendungen seiner Wahl sehen dürfen, wie er wollte. Das Therapieziel lautete nun Transzendenz durch Übersättigung, Einige Wochen lang war es, als hätte ein zusammengerotteter Haufen einen Palast gestürmt. Zeitpläne existierten nicht mehr, die Cafeteria blieb rund um die Uhr geöffnet, Patienten, die eine Überdosis erwischt hatten, irrten wie Film-Zombies umher, summten die Erkennungsmelodien ihrer Lieblingsshows, gaben Imitationen von - manchmal recht obskuren - Fernseh-Größen zum besten und ließen sich auf handgreifliche Auseinandersetzungen über Bagatellen ein, sofern sie nur entfernt mit dem Thema Fernsehen zu tun hatten. «Erstaunlich», sprach Dennis Deeply zu seiner Überraschung seine Gedanken laut aus, «hier geht es zu wie im Irrenhaus.»   - Thomas Pynchon, Vineland. Reinbek bei Hamburg 2015

Therapie Wecksel


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