charfsinn  Der talmed-chochem kommt vom Mittagessen in sein Arbeitszimmer zurück, kann aber seine Brille nicht finden. Er sucht in allen Ecken und Winkeln, aber die Augengläser bleiben verschwunden.

»Was soll ich, was soll ich bloß machen?« singt er vor sich hin. »Das ist ein Problem, das ist ein Problem, gebrauch' doch mal deinen Verstand. Also gut, erste Hypothese: ›Ist jemand reingekommen und hat sie gestohlen, als ich nicht da war?‹ N-nein. Und warum nicht? Weil, wenn es jemand gewesen wäre, der eine Lesebrille braucht, dann hätte er eine. Wenn er aber keine braucht, wozu soll er dann meine stehlen? ... Zweite Hypothese: Vielleicht hat sie ein Dieb gestohlen, der sie gar nicht selbst haben wollte, sondern der sie verkaufte Aha! Aber wem kann man schon eine Lesebrille verkaufen? Wenn sie der Dieb jemandem anbietet, der eine braucht, dann hat der schon eine; wenn er sie aber jemandem anbietet, der keine braucht, warum sollte der sie dann kaufen? Nein! Kein Dieb!... Und was heißt das? Ganz offensichtlich: ›Es muss jemand die Brille genommen haben, der eine braucht und auch eine hat, dieselbe aber gerade nicht finden kann!‹ Und warum kann er sie nicht finden? Vielleicht war er so in seine Studien vertieft, dass er sie geistesabwesend von seiner Nase auf die Stirn geschoben hat. Vielleicht hat er das dann vergessen und hat deshalb - meine genommen!«

Der Gelehrte hält inne. »Jetzt muss ich den Gedanken bloß noch etwas weiter treiben!« ruft er. »Vielleicht bin ich ja selbst dieser Mann - der Mann, der eine Brille braucht und der auch eine Brille besitzt, der sie von der Nase auf die Stirn geschoben und bloß vergessen hat, dass er das getan hat. Wenn meine Überlegungen richtig sind, müsste meine Brille jetzt auf meinem Kopf sein!« Der talmed-chochem hebt seine Hand, findet die Brille und setzt seine Studien fort. - (ji)

Scharfsinn (2)  Ein Alter mit dunkelbraunem Gesicht, einem schwarzen Barte und viereckigem, kräftigem Leib verlor sein Reisekamel. Er bestieg ein Pferd. Während er nun mit diesem das Kamel suchte und so inmitten der gelben weiten Steppe dahinzog, begegnete er einem jungen Mann. Dieser hatte ein braunrotes Gesicht, hervortretende schwarze Augen und war von kräftigem Körperbau. Er ritt ein schmutzigbraunes Pferd.

Sie trafen sich und boten sich gegenseitig Frieden und Gesundheit.

In der Pause, in der der Alte von dem Jungen Feuer zum Rauchen nahm und rauchte, sagte er:

»Ich bin auf der Reise und habe ein weißes Kamel verloren. Bist du nicht solch einem Kamel begegnet und sahst es?« Darauf entgegnete der junge Mann:

»Ist dein Kamel nicht auf dem rechten Auge blind, lahmt links und auch seine Vorderzähne sind beide ausgefallen?«

Freudig eilte sich der Alte, ihm zu antworten: »So ist's! So ist's! Es stimmt genau!« und dann fuhr er fort: »Aber wo ist dieses Kamel? Wann ungefähr hast du es gesehen? Kannst du mir das genau sagen?«

»Ich weiß nicht, wo dein Kamel ist«, sagte der andere, »ich habe nur die Fährte deines Kamels am vergangenen Tag gesehen!«

Auf diese Antwort hin dachte der Alte: >Dieser junge Mann hat sicher mein Kamel gestohlen !< So brachte er ihn zum Amte und klagte ihn vor dem Richter an: »Dieser junge Mann hat mein Kamel gestohlen!« Da sagte nun der Junge ohne Aufregung zum Richter gewandt: »Ich will sagen, wie viele eigentümliche Zeichen seines Kameles ich gesehen habe!«

»So sei es! So sei es!« sagte der Richter, »sprich!«

Wie jener nun sagte: »Dieses Kamel war auf der einen Seite mit einem Gefäß voll Honig, auf der anderen Seite mit Weizen beladen«, glaubte der Alte noch mehr im Recht zu sein und schrie laut: »Es ist ganz bestimmt, daß der Junge mein Kamel gestohlen hat!«

Auch der Richter glaubte das nun so ziemlich und er befragte den jungen Mann: »Hast du dieses Kamel wirklich nicht gesehen?«

»Ich habe es nicht gesehen!« antwortete dieser.

»Wenn du das Kamel nicht gesehen hast, wie hast du dann seine Eigenheiten und Kennzeichen so gut gewußt?«

»Daß dieses Kamel auf dem rechten Auge blind ist, wußte

ich daraus, das es nur auf der linken Seite das gewachsene Gras abgefressen hatte!«

»Wie wußtest du, daß die vorderen Eckzähne des Kamels ausgefallen waren?«

»Als ich die Überbleibsel des Grases sah, das das Kamel abgefressen hatte, wußte ich, daß es ohne Vorderzähne war, da es Grasstückchen genau von der Größe zweier Zähne hatte abgebissen liegenlassen!«

»Wie wußtest du aber dann, daß es auf der linken Vorderhand lahmt?«

»Im allgemeinen entspricht die Spur des linken Fußes nicht der des rechten Fußes. Es ging, indem es die Vorderhand nachschleppte. Daraus wußte ich, daß es lahmte!«

»Aber wie konntest du dann wissen, daß das Kamel mit Weizen und Honig beladen war?«

»Das war noch leichter zu wissen! Auf der einen Seite des Weges waren die Sperlinge dabei, den herabgefallenen Weizen aufzupicken und zu fressen, auf der anderen Wegseite sammelten sich die Fliegen auf dem hier und da heruntergetropften Honig!«

Wie er so die Gründe seines Wissens einen nach dem anderen dargelegt hatte, sagten Richter und Alter, alle beide:

»Es ist wahr! Die Worte, die dieser junge Mann gesprochen hat, sind alle richtig!«

Und so gingen der Alte und der Junge zu zweit hinter dem Kamel her, fanden es aber nicht.  - Mongolische Märchen. Hg. Walter Heissig. München 1993 (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)

 

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