aison Was die Gedichtbücher der neuen Saison angeht, so werden gewiß weiter die Sonnenuntergänge von der Lüneburger Heide bis zum ötztaler Alpenmassiv den Stoff liefern mit der Einteilung:
Liebe zur Natur, Liebe zu Gott und Liebe zu den Menschen. Nicht weniger wird der Bahnbau in Wolhynien, sowie die Hochöfen der Ruhr mit aktivem Pathos besungen werden, negativ oder positiv, je nachdem, ob der Sänger den arbeitgebenden oder arbeitnehmenden Schichten nähersteht. Stimmung und Gesinnung sind ja nun einmal die Eckpfeiler der kleinbürgerlichen Poesie. Dazu der nötige reale Gehalt. Die konstruktive Glut, die Leidenschaft zur Form, die innere Verzehrung, das ist ja kein Gehalt. Nie wird der Deutsche erfassen, niemand wird ihm gegenständlich machen können (und es ist ja auch gar nicht nötig, daß es geschieht), daß zum Beispiel die Verse Hölderlins substanzlos sind, nahezu ein Nichts, um ein Geheimnis geschmiedet, das nie ausgesprochen wird und das sich nie enthüllt.
Was unsere Bühnenkunst angeht, so durften wir eben aus einer einzigen Zeitungsnummer
erfahren, daß eine dreiaktige Komödie »Die Brustwarze« herauskommt und ein Schauspiel
»Schlanke Rotblondinen gesucht«. Daneben aber brauchen wir nicht unruhig zu
sein, daß auch der muntere Backfisch weiter den alten Onkel verwirrt und die
hochbusige Vierzigerin sich dem unverbrauchten Konfirmanden nähert, ganz wie
in »Sodoms Ende«, genau wie im »Schlaraffenland«, genau wie vor vierzig Jahren.
Die neue Nuance wird sich ausschließlich im Lokalkolorit äußern: es gilt in
der neuen Bühnenkunst als smart, an der Bar, während der Boy den Olivencocktail
schüttelt, in drei Aperçus zwischen Ratschlägen an den Mixer das Fazit von Lebensausgängen
zu glossieren, und es gehört zum Stil, die geistigen Vorwände für die Kulissenverschiebung
sowie den Toilettenwechsel der Diva aus fernen Zonen zu beziehen. Steht gar
in einem Blockhaus auf einem Holztisch eine Whiskyflasche und der rauhen Goldsucherkehle
entsteigt der Wollustsong, steht die neue Synthese aus Büchner und Kleist
vor uns da. Ob diese Produkte auf dem Broadway, in Paris oder innerhalb der
einheimischen Industrie entstehen, ist ohne Belang, wir haben das schöne Beispiel,
daß, während wir alle vergeblich nach der Internationale der Politik, des Zolls
und der Wirtschaft verlangen, die Internationale des literarischen Tinnefs in
hoher Blüte unter uns steht. - Gottfried Benn,
Die neue literarische Saison (1932)
Saison (2) Es war der Anfang der Saison,
und London war bereits voll von wieseläugigen Mamas und züchtigen Töchtern,
linkischen, plattfüßigen Jünglingen und lüsternen alten Männern. Nachdem der
strenge Winter vorüber war, erwachten die vornehmen Viertel Bel-gravia und Mayfair
mit einer endlosen Reihe von Bällen und Soireen wieder zum Leben. Doch diese
Saison war sogar noch farbenprächtiger als die vergangene, denn eine neue Berühmtheit
war eingetroffen — der ehemalige Sklave Atlanta Washington. Die Presse berichtete
über jeden seiner Schritte. Er war zum Ehrenmitglied von White's und Crockford's
ernannt worden, hatte sich mit dem Prinzen und der Prinzessin von Wales in Sandringham
aufgehalten, und man munkelte, er habe mit allen drei Töchtern der Herzogin
von Blessington wie auch mit der Herzogin Affären gehabt. Er hatte freilich
auch seine Kritiker, denn es gab viele, welche die Ansicht ihrer weißen Zeitgenossen
in Amerika teilten, ein «hochnäsiger Nigger» habe in einer Gesellschaft gesitteter
Weißer nichts zu suchen. Washington genoß es, im Rampenlicht zu stehen. Er schrieb
gleichermaßen beleidigende Antworten auf die beleidigenden Briefe in der Times,
und wurde er auf der Straße angespuckt, zögerte er nicht, die Schuldigen vor
aller Augen mit der Reitpeitsche zu züchtigen; mindestens vier Vertreter der
Metropolitan Police standen dabei, offenbar durch den Anblick eines reichen,
gebildeten Niggers eingeschüchtert. Als sie schließlich eingriffen, ließ sich
Washington überaus bereitwillig — in Wahrheit ging er voran — zum Revier Cannon
Row abführen, wo er auf Bewährung wieder entlassen wurde. Drei Männer verfolgten
ihn besonders heftig — die drei Männer, die in Augenschein zu nehmen Lestrade
an einem frühen Mittwochmorgen im Juni in den Battersea Park gerufen wurde.
Die drei Männer hatten zweierlei gemeinsam - sie waren alle drei tot, und sie
waren alle von Kopf bis Fuß mit schwarzer Farbe bedeckt.
- M. J. Trow, Lestrade und die Struwwelpeter-Morde.
Reinbek bei Hamburg 1990 (zuerst 1985)
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