Endlich war die Lektüre beendet. Ich weiß nicht, wie lange sie gedauert hatte. Doch trotz meiner Verwirrung bemerkte ich, daß der Vorleser nun eine heisere Stimme hatte. Auf seiner Stirne standen Schweißperlen. Das Buch wurde geschlossen und in das Köfferchen zurückgelegt. Der Unbekannte schaute mich ängstlich an, seine Augen blickten nicht mehr so gierig wie zuvor. Ich war so niedergeschlagen, daß es auch ihm auffiel, und seine Verwunderung wuchs enorm, als er sah, wie ich mir die Augen rieb und nicht wußte, was ich antworten sollte. Mir schien in diesem Augenblick, als würde ich nie mehr sprechen können. Die einfachsten Dinge, die mich umgaben, schienen mir plötzlich so sonderbar und feindselig, daß ich mich direkt vor ihnen ekelte.
All dies scheint mir auch gemein und niederträchtig, und ich habe keinerlei
Nachsicht für meine Verstörtheit. Doch es gab einen Grund für meine Verwirrung,
und zwar einen gewichtigen: Die Geschichte, die dieser Mann vorgelesen hatte,
war die detaillierte und vollständige Erzählung meines inneren und äußeren Lebens.
Die ganze Zeit über war ich dem genauen, getreuen und unerbittlichen Bericht
der Dinge gefolgt, die ich gefühlt, geträumt und getan hatte, seit ich auf der
Welt war. Wenn ein göttliches Wesen, ein Leser der Herzen und unsichtbarer Zeuge,
von Geburt an an meiner Seite gestanden und all meine Gedanken und Taten niedergeschrieben
hätte, dann hätte er genau dieselbe Geschichte aufgezeichnet, von der der unbekannte
Vorleser behauptete, sie sei seiner Phantasie, seiner freien Erfindung entsprungen.
Alle kleinsten und geheimsten Dinge wurden dann aufgeführt. Weder ein Traum
noch eine Liebschaft, weder eine verborgene Niederträchtigkeit noch ein gemeines
Kalkül waren dem Schriftsteller entgangen. -
Giovanni Papini, Der Spiegel auf der Flucht. (Die Bibliothek von Babel Bd. 19,
Hg. Jorge Luis Borges) Stuttgart 1984
|
||
|
||