uch, furchtbares  Die außergewöhnliche Lektüre wurde fortgesetzt. Ich konnte auf meinem Lehnstuhl nicht ruhig sitzen bleiben, und Schauer liefen nicht nur über meinen Rücken, sondern über den Kopf und meinen ganzen Körper. Wenn ich mein Gesicht in einem Spiegel gesehen hätte, hätte ich vielleicht gelacht, und alles wäre vorbei gewesen, denn wahrscheinlich war es von Staunen und unsicherer Wildheit gezeichnet. Ich versuchte einen Augenblick lang, nicht auf die Worte des ruhigen Vorlesers zu hören, doch das verwirrte mich nur noch mehr, und so hörte ich mir Wort für Wort, Pause für Pause, die Geschichte an, die der Mann mir, den roten Kopf über das schön gebundene Buch geneigt, vorlas. Was sollte oder konnte ich in einer solch eigenartigen Situation tun? Sollte ich das Buch nehmen und es zerreißen, darauf herumtrampeln, es ins Feuer werfen? Sollte ich den verfluchten Vorleser packen, ihn beißen und ihn aus dem Zimmer werfen wie ein unerwünschtes Gespenst? Aber warum sollte ich all das tun? Und doch störte mich jene Lektüre auf unbeschreibliche Weise. Sie vermittelte mir den unerfreulichen Eindruck eines absurden und unangenehmen Traumes ohne Hoffnung auf ein Wiedererwachen. Für einen kurzen Augenblick glaubt ich, in einen krampfartigen Tobsuchtsanfall auszubrechen, und ich stellte mir einen weiß gekleideten Krankenwärter vor, der mich mit tausend unbequemen Vorsichtsmaßnahmen in die Zwangsjacke steckte.

Endlich war die Lektüre beendet. Ich weiß nicht, wie lange sie gedauert hatte. Doch trotz meiner Verwirrung bemerkte ich, daß der Vorleser nun eine heisere Stimme hatte. Auf seiner Stirne standen Schweißperlen. Das Buch wurde geschlossen und in das Köfferchen zurückgelegt. Der Unbekannte schaute mich ängstlich an, seine Augen blickten nicht mehr so gierig wie zuvor. Ich war so niedergeschlagen, daß es auch ihm auffiel, und seine Verwunderung wuchs enorm, als er sah, wie ich mir die Augen rieb und nicht wußte, was ich antworten sollte. Mir schien in diesem Augenblick, als würde ich nie mehr sprechen können. Die einfachsten Dinge, die mich umgaben, schienen mir plötzlich so sonderbar und feindselig, daß ich mich direkt vor ihnen ekelte.

All dies scheint mir auch gemein und niederträchtig, und ich habe keinerlei Nachsicht für meine Verstörtheit. Doch es gab einen Grund für meine Verwirrung, und zwar einen gewichtigen: Die Geschichte, die dieser Mann vorgelesen hatte, war die detaillierte und vollständige Erzählung meines inneren und äußeren Lebens. Die ganze Zeit über war ich dem genauen, getreuen und unerbittlichen Bericht der Dinge gefolgt, die ich gefühlt, geträumt und getan hatte, seit ich auf der Welt war. Wenn ein göttliches Wesen, ein Leser der Herzen und unsichtbarer Zeuge, von Geburt an an meiner Seite gestanden und all meine Gedanken und Taten niedergeschrieben hätte, dann hätte er genau dieselbe Geschichte aufgezeichnet, von der der unbekannte Vorleser behauptete, sie sei seiner Phantasie, seiner freien Erfindung entsprungen. Alle kleinsten und geheimsten Dinge wurden dann aufgeführt. Weder ein Traum noch eine Liebschaft, weder eine verborgene Niederträchtigkeit noch ein gemeines Kalkül waren dem Schriftsteller entgangen.   - Giovanni Papini, Der Spiegel auf der Flucht. (Die Bibliothek von Babel Bd. 19, Hg. Jorge Luis Borges) Stuttgart 1984

 

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