Brise   »An jenem Tage verbanden sich die Rotweinträume und die bannergeschmückten Tierkreisträume des Sertão-Katholizismus mit dem Funkeln der Sonne auf den Felsspitzen, den Quarzsplittern und Malachit-Kristallen, und plötzlich, ehe ich mich versah, überkam mich eine ›Brise‹.«

»Eine Brise? Was ist das? Von was für einer Brise sprechen Sie jetzt? Spielen Sie vielleicht auf die Sertão-Brise an?«

»O nein. Mit allem Respekt gesagt, Sie kennen sich in den Sertão-Winden schlecht aus, Herr Richter. Hier im Hinterland - in dem dornigen, graubraunen, steinigen Land der Linken - gibt es überhaupt keine ›Brise‹, das ist ein romantisches, rechtsorientiertes Lüftchen, im Ausland gang und gäbe, aber hier in Brasilien allerhöchstens hin und wieder in der Buschwaldzone zu finden. Der Sertão-Wind ist entweder der nächtliche Cariri oder der Espinhara, der versengende Wind des Mittags und der Nachmittage in der Buschsteppe. Wenn ich also Brise sage, meine ich etwas ganz anderes. ›Brisen‹ sind apokalyptische Anfälle, die mich dann und wann überkommen, da ich ja unter der ›heiligen Krankheit‹ der Seher, der schäumenden Dichter und der Propheten leide. An der gleichen Krankheit haben auch Kaiser Pedro I., Machado de Assis und zwei Sertão-Propheten gelitten, die in der Wüste von Judäa lebten.«

»Wer war denn das? Doch nicht Antônio Conselheiro und sein Urgroßvater?«

»O nein, der Prophet Hesekiel und der Prophet Johannes von Patmos, bekannter als Evangelist Johannes, so wie mein Urgroßvater als Dom Johann der Abscheuliche bekannter war. Hesekiel war ›Brisen‹ ausgesetzt. Ich sage das, weil Pater Renato hier eines Tages in der Messe einen Abschnitt aus der epischen Chronik vorgelesen hat, die Hesekiel verfaßt hat. Der Prophet erzählt darin, daß er, als er eines Tages auf eine mit Gebeinen bedeckte Wüste schaute — sicherlich die Skelette Schädel und Rippen von Ochsen, wie sie unsereins zu Dutzen­den im Sertão findet -, plötzlich eine Vision erlebte. Die Knochen traten allmählich zusammen, sie vereinigten sich, bis die Skelette vollständig waren, und dann kam ein Feuerwind, und die Skelette tanzten, und es erschienen große Edelsteine und leuchteten über alledem, und es tauchte ein riesiger Saphir auf, ein vom Licht des Feuers glühender Chrysolith und Flammen­wagen und mit blinkenden Schwertern bewaffnete Cherubim mit Schwingen aus Gold und Silber und der Engel und der geflügelte Stier und der Jaguar und der Sperber. Es war eine schreckliche Angelegenheit, Ew. Ehren, ein Totenvers voller Gebeine und gleichzeitig glorreich und silbern mit eingelegten Sternensteinen.«   - (stein)

 

Wind

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme