ugenmaß
Das späte Mittelalter ist eine Zeit, in der alle Maße sehr ungenau sind, denn
sie werden nicht vom linearen Meter, sondern vom Eindruck her bestimmt; zum
Beispiel lässt der Ruhm die Statur wachsen oder er lässt sie auf- und ab wogen
und unermesslich erscheinen. Aber wahrscheinlich kommt es nicht nur vom Eindruck
(das heißt von der Beschreibung),
sondern der berühmte Mensch erfährt tatsächlich einen allgemeinen Effekt körperlicher
Ausdehnung, als würde sich sein ganzes Ich entfalten, die Buckel einebnen, die
Kräuselungen glätten, die den anonymen normalen Menschen so kümmerlich machen.
Rinaldo von Montauban bläst sich mit dem Fortschreiten seines Epos auf, zuerst
kaum merklich, aber dann nach 49 Gesängen hat er sich so sehr aufgeblasen, dass
er (wie der anonyme Verfasser sagt), als er auf seiner Pilgerreise zum Heiligen
Grab kommt und mit den Sarazenen Streit anfängt, fünfzehn Fuß groß ist, das
heißt zwischen vier und fünf Metern, auch wenn es mit dem Augenmaß geschätzt
wurde. Dann kehrt er nach Hause zurück und schrumpft. Und als er gegen Ende
seines Lebens, das heißt um die fünfzig, barfuß und wie ein Mönch gekleidet
in Köln als Maurer arbeitet (zur Buße) und von den ortsansässigen Maurern wegen
einer elenden gewerkschaftlichen Frage aus Neid hinterrücks umgebracht wird,
und man ihn auf einstimmigen Wunsch des Volkes sofort zum Heiligen macht (zum
Großen Heiligen Baron), wegen der Wunder, die aus ihm hervorgesprudelt sind
(Glocken, die von selbst läuten, die Nacht, die zum Tag wird, die Blinden, die
sehend werden, die Lahmen, die gehen, die Engel usw.), da hatte sich seine Statur
beim großen Finale unter Beteiligung des Himmels auf ca. vier Meter stabilisiert,
was nicht wenig ist; vielleicht wäre ihm jetzt sogar der Helm des Riesen Mambrino,
wenn er ihn probiert hätte, zu eng gewesen.
- Ermanno Cavazzoni, Das kleine Buch der Riesen. Berlin
2010
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