Wortsteller   Der Besucher war ein kleiner, dürrer Kerl mit einem langen Hals. Sein Leib steckte in einem offenen Regenmantel, dessen Taschen mit Zeitungen vollgestopft waren. Unter dem Mantel trug er eine zerrissene graue Kleidung mit braunen Streifen und ebenfalls überall Zeitungen; um den schmutzigen Hals wand sich ein zitronengelbes, fleckiges Seidentuch, auf dem Kopf klebte an der Glatze eine Baskenmütze. Die Augen funkelten unter buschigen Brauen, die starke Hakennase schien zu groß für das Männchen, und der Mund darunter war erbärmlich eingefallen, denn die Zähne fehlten. Er sprach laut vor sich hin, Verse, wie es schien, dazwischen tauchten wie Inseln einzelne Worte auf, so etwa: Trolleybus, Verkehrspolizei; Dinge, über die er sich aus irgendeinem Grund maßlos zu ärgern schien. Zu der armseligen Kleidung wollte der zwar elegante, aber ganz aus der Mode gekommene schwarze Spazierstock mit einem silbernen Griff nicht passen, der aus einem ändern Jahrhundert stammen mußte und mit dem er unmotiviert herumfuchtelte. Schon beim Haupteingang rannte er gegen eine Krankenschwester, verbeugte sich, stammelte eine überschwengliche Entschuldigung, verirrte sich darauf hoffnungslos in die Geburtenabteilung, platzte fast in den Gebärsaal, wo alles in voller Tätigkeit war, wurde von einem Arzt verscheucht, stolperte über eine Vase mit Nelken, wie sie dort in Massen vor den Türen stehen; endlich führte man ihn in den Neubau (man hatte ihn wie ein verängstigtes Tier eingefangen), doch geriet ihm, noch bevor er in des Alten Zimmer trat, der Stock zwischen die Beine und er schlitterte durch den halben Korridor, um hart gegen eine Türe zu prallen, hinter der ein Schwerkranker lag.

»Diese Verkehrspolizei!« rief der Besucher aus, als er endlich vor Bärlachs Bett stand. (Gott sei Lob und Dank, dachte die Lehrschwester, die ihn begleitet hatte.) »Überall stehen sie herum. Eine ganze Stadt voll Verkehrspolizisten!«

»He«, antwortete der Kommissär, der vorsichtigerweise auf den aufgeregten Besucher einging, »so eine Verkehrspolizei ist eben nun einmal nötig, Fortschig. In den Verkehr muß Ordnung kommen, sonst gibt es noch mehr Tote, als wir schon haben.«

»Ordnung in den Verkehr!« rief Fortschig mit seiner quietschenden Stimme. »Schön. Das ließe sich hören. Aber dazu braucht man keine besondere Verkehrspolizei, dazu braucht man vor allem mehr Vertrauen in die Anständigkeit des Menschen. Das ganze Bern ist ein einziges Verkehrspolizistenlager geworden, kein Wunder, daß da jeder Straßenbenützer wild wird. Aber das ist Bern immer gewesen, ein trostloses Polizistennest, eine heillose Diktatur hat in dieser Stadt seit jeher genistet.

Schon Lessing wollte eine Tragödie über Bern schreiben, als ihm der jämmerliche Tod des armen Henzi gemeldet wurde. Jammerschade, daß er sie nicht schrieb! Fünfzig Jahre lebe ich jetzt in diesem Nest von einer Hauptstadt, und was es für einen Wortsteller heißt (ich stelle Worte auf, nicht Schriften!), in dieser eingeschlafenen, dicken Stadt zu vegetieren und zu hungern {man kriegt nichts als das wöchentliche Literaturblatt des ›Bund‹ vorgesetzt), will ich nicht beschreiben. Schaudervoll, höchst schaudervoll! Fünfzig Jahre schloß ich die Augen, wenn ich durch Bern ging, schon im Kinderwagen habe ich das getan; denn ich wollte diese Unglücksstadt nicht sehen, in der mein Vater als irgendein Adjunkt zugrunde ging, und jetzt, da ich die Augen öffne, was sehe ich? Verkehrspolizisten, überall Verkehrspolizisten.«   - Friedrich Dürrenmatt, Der Verdacht. [Mit: Der Richter und sein Henker] Zürich 1978

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