Visite  Manchmal sind die Kinder nicht nur schmutzig und vernachlässigt, sondern krank, todkrank. Dann sollten Sie mal die Schwestern arbeiten sehen. Man könnte meinen, es seien die Gören ihrer besten Freundin. Sie behandeln diese Kinder, als seien sie eine Million Dollar wert. Nicht, daß nicht manche Schwestern besser wären als andere, aber im allgemeinen reißen sie sich ein Bein raus wegen solcher Kinder; oft auch, wenn ich meinerseits wünschte, sie würden nie gesund werden.

Gelegentlich mache ich mir mit den Schwestern meinen Spaß. Warum nicht? Wenn ich morgens Visite mache, schaue ich mir so ein jämmerliches Exemplar an, das sie für mich herausgeputzt haben, und sage zu ihnen: Macht ihr einen Einlauf, vielleicht wird sie dann gesund und später mal eine billige Prostituierte oder so was. Das Land braucht dich, du Wurm. Einmal schlug ich vor, wir sollten doch mal zum Scherz eine Hochzeit arrangieren zwischen einem geborenen Müllkutscher, dem wir das Leben gerettet hatten, und einem kleinen Weibsstück mit einem so frechen Gesicht, daß jeder drüber lachen mußte.  - William Carlos Williams, Jean Beicke, nach (messer)

Visite (2)  Am Vormittag trat elastisch, direkt vom Tennisplatz kommend, der Sportler und Narkotiseur Dr. Leonhard ein. Hände auf dem Rücken. Ich sah ein Stück Schlauch. Herkenrath sah nichts. Der war geschmeichelt. Tat tapfer. Beschimpfte bramarbasierend alle Ärzte der Welt. Ach was haben Sie denn da, sagte in schlecht gespielter Harmlosigkeit der Narkotiseur. Herkenrath, der ehemalige Aktive und Generalstäbler, bemerkte nichts, ließ sich ins Auge schauen, klappte auch den Mund auf, und bis er zweimal, dreimal gefaucht und gestöhnt hatte, war der dünne Schlauch schon tief in der Nase und wanderte, vom Doktor lächelnd unterstützt» in den Magen des Aktiven a. D. hinab. Sehen Sie, sagte der Narkotiseur, das hätten wir alles gestern schon machen können, wenn Sie so vernünftig gewesen wären wie jetzt.

Um drei Uhr brachten sie Herkenrath zurück, blutleer und stöhnend wie ein sterbender Opernheld. Ein zweiter Schlauch wurde rasch durchs zweite Nasenloch gesteckt und an die Sauerstoff-Flasche angeschlossen. Schwester Agathe, dürr, fad blond, mitten im Gesicht herrscht ein Bleizalin, wischte den Speichel ab, der mit verquollen blasigem Gelalle aus dem Mund der immer noch fetten Halbleiche troff. Nicht das Bett berühren, zur Seite drehen, bitte, eine ganz kleine Lageveränderung (träumte wohl vom Schmerz der Truppe), wie lange muß ich das Foto noch, laß mich doch pinkeln, höher, den Nagel, den Nagel aus dem Arm. Agathe sagte: denkste, und streichelte ihn. Um fünf übernimmt eine Anfängerin die Wache. MankriegtjakeinPersonalmehr, sang Tilly von schräg nach oben. Dem Aktiven muß der Ton gefallen, in dem Tilly von die Neue einweist: wenn die Infusion nicht mehr perlt, der Sauerstoff nicht mehr brodelt, sofort Meldung. Und laß ihn ja nicht die Schläuche aus der Nase ziehn. Die Pflasterhalterung auf den Nasenflügeln wird noch einmal pflichtbewußt überprüft.  - Martin Walser, Halbzeit. München 1971 (zuerst 1960)

Visite (3)   Eine Schwester verteilte Paiere, die sich die Herren gegenseitig zeigten, und bezeichnete die Eingelieferten mit Namen.

Aha, sagte der mit der goldeingefaßten Brille und sah sich Arlecq an. Na, man kennt das ja. Typische Berufskrankheit in unsern Tagen, progressiv ansteigende Kurve. Ist also fehl am Platz. Sechzig pro müle, wenn das mal nicht ausreicht.

Sechzig pro mille, sagte Paasch und nickte dem Goldbebrillten zu, das war schon immer mein heimlicher Traum. Fünfzig pro mille ist aber das Stärkste, was man im Laden kaufen kann.

Sie sind gar nicht gemeint, sagte der Goldeingefaßte.

Paranoide Zustände, sagte Arlecq. Er hält sich immer für einen ändern.

Paranoid? sagte der Bebrillte. Wieso eigentlich? Der Ernst des Lebens, schwätzte Arlecq. Es kommt eben alles zusammen. Die Heirat, die Vaterschaft. Und überhaupt, möchten Sie, meine Herren, die Welt verantworten so wie sie ist, ganz und rund und doch wie ein verfaulter Apfel?

Er ist ein Pathetiker, sagte Paasch erläuternd. Da hören Sie am besten gar nicht hin. Falls Sie Auskünfte benötigen, wir sind gut bekannt mit Gott. Der wird so freundlich sein, denke ich, und Ihnen berichten, wie mein bedauernswerter Freund Paasch seit seiner Hochzeit nicht wieder zur Besinnung kam. Weil er fortgesetzt dem Alkohol huldigt.

Richtig, sagte Arlecq. Wußte ich denn, was ich tat? Nein, ich wußte es beileibe nicht.

Jetzt stutzten die Herren und sahen sich an. Da schien doch mehr vorzuliegen als ein unnormal hoher Alkoholspiegel im Blut.

Sie - gehören zusammen? fragte einer.

Wie der Coitus und das Kind, sagte Paasch.

Da wollen wir doch einmal nähertreten, sagte der in

Gold und Weiß und stuppte seinen Finger, der nach Tabak roch, unter Arlecqs Augenpartie.

Wollen Sie mal ein klein wenig mit den Augen rollen, ja, so ist's fein, jetzt halten Sie an. So. Arlecq starrte zur Zimmerdecke. Auch diese war kahl, weiß wie ein Schneefeld. Keine Spur einer Fliege.

Wie lange tragen Sie denn das schon, wenn ich fragen darf, sagte der Goldene und zupfte Arlecq am Bart.

Ooch, sagte Arlecq, seit meiner Geburt.

Seit Ihrer Geburt? Ist ja interessant. Wann war denn das? Neunzehnhundertsiebenundfünfzig, sagte Arlecq. Da ging es jäh bergab mit mir und ich sträubte alle Stacheln, wie der Igel, wenn er den Berg hinabkollert.

So? sagte der andere. Wie der Igel? Merkwürdig.

Ja, sagte Arlecq. Wie der Igel. Ganz komisch, wie? Nutzte mir aber nicht viel, der Berg war zu glatt, die Stacheln verfingen sich nicht. Ich rutschte in die Tiefe und erwachte in diesem Bett.

Eine fantasiebegabte Natur, sagte Paasch. Schriftstellerisch begabt.

Dichterisch, sagte Arlecq. Der Igel, der aus meinem Barte rollt, dreht Pillen wie ein Käfer.

Oobliadooh, Oobliadooh, Uhu, sagte Paasch. Da hob die Kommission die Köpfe und wandte sich ihm zu.

Und wie ist das bei Ihnen, sagt der Goldbebrillte, aus rosigen Backen mild lächelnder Geburtshelfer der Vernunft. Er unterließ es, Paasch am Bart zu zupfen.

Bei mir wuchs es natürlich, sagte Paasch. Nur daß ich früher blond war, bei der HJ, wenn Sie das kennen. Das gab sich dann. Ich hoffte immer, es würde ein roter Bart daraus. Sie wissen vielleicht, daß Moses einen roten Bart hatte. Aber meine Hoffnung war vergebens. Jetzt müssen schon ein paar graue darunter sein. Wollen Sie mal nachprüfen? Sie haben ein schärferes Auge, als Mediziner, meine ich.

Der Arzt schüttelte den Kopf. Doch war ungewiß, worüber. Ungewiß blieb auch jeder mögliche Befund. Die Herren gingen unter leisen Gesprächen davon. Die Schwester verschloß die weiße Tür.

Wenn sie wieder Marmelade bringen, sagte Arlecq etwas später, klatsche ich sie an die Wand, damit Farbe wird und sie aus unsern abstrakten Malereien erkennen mögen, wes Geistes Kinder wir sind.

Wir wollen es Ihnen nicht zu einfach machen, sagte Paasch. Den Rorschach-Test werden sie kennen, das dürfte ihnen nichts Neues sein, das gehört zum Metier. - Fritz Rudolf Fries, Der Weg nach Oobliadooh. Leipzig 1993 (zuerst 1975)
 

 

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