Verstauchung  Je dicker meine Geliebte wurde, um so mehr steigerte sich Oskars Haß. Dabei hatte ich nichts gegen die Schwangerschaft einzuwenden. Nur daß die von mir gezeugte Frucht eines Tages den Namen Matzerath tragen sollte, nahm mir alle Freude an dem zu erwartenden Stammhalter. So unternahm ich, als Maria im fünften Monat war, freilich viel zu spät, den ersten Abtreibungsversuch. Das war um die Faschingszeit. Maria wollte an jener Messingstange über dem Ladentisch, an der Würste und Speck hingen, einige Papierschlangen, auch zwei Clownsmasken mit Knollennasen befestigen. Die Leiter, die sonst an den Regalen einen guten Halt hatte, stand wackelig gegen den Ladentisch gelehnt. Maria hoch oben, mit den Händen zwischen Papierschlangen, Oskar tief unten am Leiterfuß. Meine Trommelstöcke als Hebel benutzend, mit der Schulter und festestem Vorsatz nachhelfend, drückte ich den Tritt hoch, dann zur Seite: zwischen Papierschlangen und Clownsmasken schrie Maria leise und schreckhaft auf, schon schwankte die Leiter, Oskar sprang zur Seite und dicht neben ihm kam Maria, buntes Papier, Wurst und Masken mitreißend, zu Fall.

Das sah schlimmer aus, als es war. Sie hatte sich nur den Fuß verstaucht, mußte sich legen und schonen, hatte sonst aber keinen Schaden genommen, wurde weiterhin immer unförmiger und erzählte nicht einmal dem Matzerath, wer ihr zu dem verstauchten Fuß ver-holfen hatte.   - Günter Grass, Die Blechtrommel. Frankfurt am Main 1965 (zuerst 1958)

Verstauchung (2) »Alles in Ordnung?« fragte ich und überflog mit einem Blick die Reihen von Zwingern und Käfigen. »Ein Briard hat sich einen Finger gebrochen«, meldete Alfred. »Ja wie denn?«

»Ganz einfach. An der achtzehnten rechten Hand. Hat in der Nase gebohrt, eine ungeschickte Bewegung - sind ja sehr tolpatschig,  diese Briarden - und schon war der Finger gebrochen.« »Da muß ein Tierarzt her«, sagte ich. «Wird schon auch so ... Fürs erste, glaube ich ...« »Nein, so geht das nicht«, sagte ich. »Schauen wir einmal.«

Wir gingen vorbei an wunderlichen Tieren der grauen Vorzeit und des Märchens. Wenn sie nicht hinter Gittern gewesen wären, hier hätte einer das Fürchten lernen können. Der Briard fühlte sich offenbar nicht wohl. Er hockte am Boden, drückte den Oberkörper gegen das Gitter und streckte seine kranke Hand heraus, wobei er sie mit sieben ändern Händen hochhielt. Mit den übrigen 82 Händen klammerte er sich am Gitter fest und stützte seine Köpfe. Einige seiner Köpfe schliefen. »Was ist?« fragte ich teilnahmsvoll. »Tut's weh?« Einige wache Köpfe murmelten etwas auf altgriechisch, weckten dann aber einen Kopf, der russisch konnte.

»Scheußlich, wie es schmerzt«, sagte er. Die ändern Köpfe verstummten und starrten mich mit aufgerissenen Mäulern an.

Ich untersuchte den Finger. Er war schmutzig und dick angescliwollen, aber von einem Bruch konnte keine Rede sein. Es war bloß eine Verstauchung. Für solche Dinge brauchte man hier keinen Arzt. Ich umklammerte den Finger und zog ihn mit aller Kraft zu mir her. Der Briard stimmte ein Gebrüll aus fünfzig Kehlen an und warf sich auf den Rücken. »Na, na, na«, sagte ich und wischte mir die Hand mit meinem Taschentuch ab. »Ist ja schon wieder vorbei.«

Der Briard wollte nun unbedingt seinen Finger sehen. Das war aber gar nicht so einfach. Die hinteren Köpfe reckten die Hälse und bissen die vorderen in den Hals, damit sie auch etwas sähen. Alfred entrang sich ein tiefer Seufzer.

»Zur Ader hätte man ihn lassen sollen«, sagte er mit einem vieldeutigen Gesichtsausdruck. Dann seufzte er noch einmal und fügte hinzu: »Aber, ich bin doch ein Esel. Was soll denn der für ein Blut haben, dieses komische Fabeltier.«

Der Briard erhob sich wieder. Alle fünfzig Köpfe lächelten in einer Art von Glückseligkeit. - Arkadi und Boris Strugatzki, Montag beginnt am Samstag. Frankfurt am Main 1982

Krankheit, physische


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