Nichtlesen    »Ich? Ich lese keine Bücher!« erklärt Irnerio bündig.

»Und was liest du dann?«

»Gar nichts. Ich habe mich so ans Nichtlesen gewöhnt, daß ich nicht mal lese, was mir zufällig unter die Augen kommt. Das ist nicht leicht: Im zarten Kindesalter bringen sie einem das Lesen bei, und dann bleibt man das ganze Leben lang Sklave all des geschriebenen Zeugs, das sie einem ständig vor die Augen buttern. Na ja, auch ich mußte mich in der ersten Zeit schon ein bißchen anstrengen, bis ich nichtlesen konnte, aber inzwischen geht's ganz von allein. Das Geheimnis ist, daß du nicht weggucken darfst, im Gegenteil, du mußt hinsehen auf die geschriebenen Wörter, du mußt so lange und intensiv hinsehen, bis sie verschwinden

Irnerios Augen sind groß und hell, die Pupillen bewegen sich rasch; es scheint, daß ihnen nichts entgeht, wie denen eines Urwaldbewohners, der sein Leben mit Jagen und Sammeln verbringt.

»Und warum kommst du dann her, was machst du hier an der Uni, kannst du mir das sagen?«

»Warum soll ich nicht herkommen? Hier sind Leute, die aus und ein gehen, man trifft sich, man spricht miteinander. Das ist der Grund, warum ich herkomme. Warum die anderen kommen, weiß ich nicht.«    - Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)

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