Mitreisende  Jemand stieg in unseren Waggon, eine alte Frau; ich sah sie undeutlich im Licht der Bahnsteiglampe, bevor sie ihr Gepäck über sich verstaute und sich seufzend in einer Ecke niederließ. Fast sofort begann sie zu schnarchen, laut, rasselnd, langgezogen. Mir war klar, daß ich mich damit abfinden mußte, von nun an wach zu bleiben; nach etwa einer Stunde knipste ich vorsichtig die kleine Lampe über meinem Kopf an und vertrieb mir die Zeit damit, Wal zu betrachten. Er wirkte nicht besonders eindrucksvoll, wie er so schlafend und mit etwas derangierter Kleidung dalag, doch seine Zahnlücke war nicht zu sehen, was von Vorteil war, und er erfüllte mich mit einem freundlichen und angenehmen Gefühl, ganz anders als die lähmende Liebe und Verpflichtung, die mich an Maggie band, weil ich wußte, sie brauchte jemanden, den sie umhegen konnte. Ach, diese verzweifelte Angst, andere Menschen zu verletzen; sie hat mich in mehr Mißlichkeiten gebracht als all meine andern Schwächen zusammen.

Ich beugte mich vor und zog Wals Mantel hoch, der heruntergerutscht war, und damit weckte ich ihn auf. »Hallo,  Engelchen«,  sagte er grinsend  und packte  mich  am Handgelenk, als ich mich wieder zurücklehnen wollte. »Schlaf weiter. Ich wollte dich nicht wecken.« »Mag nicht schlafen. Zeitvergeudung. Komm, setz dich wieder neben mich.«

Dieses Gespräch hatte die alte Frau in der Ecke gegenüber gestört; sie regte sich und murmelte, und plötzlich starrte sie uns ausdruckslos mit kleinen, runden Vogelaugen an. Wir rührten uns nicht und hofften, sie würde wieder einduseln, doch nach einer Weile wachte sie ganz auf und nahm ihren Verstand zusammen.

»Ich fahr gern in einem Waggon, wo man Gesellschaft hat«, sagte sie. »So vergeht die Zeit schneller, nicht?«

Sie zog eine Tüte Karamelbonbons hervor und bot uns beiden eins an. Ich schaute auf meine Uhr. Zehn vor vier. Die alte Frau hatte eine ungewöhnlich heisere Stimme, vielleicht weil sie Gin trank oder zuviel rauchte, oder möglicherweise war sie bloß stark erkältet. Außerdem bemerkten wir, daß sie fast stocktaub war, und man mußte sie laut anbrüllen, damit sie einen verstand. Wal bot ihr einen Schluck Whisky an, und sie nickte eifrig und trank zu seiner Bestürzung die ganze Flasche aus.  - Joan Aiken, Die Kristallkrähe. Zürich 1974

 

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