Erzählform: Initiationsgeschichte

Wer Schmidts und Jüngers Sachen hintereinanderweg liest, merkt bald, daß beide immer wieder ein und dieselbe Geschichte erzählen, ein Ritual, bei Jünger zudem noch gattungsübergreifend, vom Tagebuch über die Erzählung bis zu zeitkritischen und -therapeutischen Essays wie dem "Waldgang".

Jüngers "Oberförster" aus "Das abenteuerliche Herz" wird wiederholt sowohl in "Der Hippopotamus" als auch in "Auf den Marmorklippen" , und noch einmal in "Ortners Erzählung" aus "Heliopolis", in "Besuch auf Godenholm" , in "Gläserne Bienen" und noch in "Gefährliche Begegnung" und "Aladins Problem" . "Eumeswil" wiederholt "Heliopolis" , "Strahlungen" wiederholt "In Stahlgewittern" , "Annäherungen" die "Subtilen Jagden" , "Die Zwille" wiederholt "Afrikanische Spiele" - jeweils mit anderen Akzenten, aber es ist immer das gleiche Muster. Beschrieben wird immer das Leben im Umkreis von Machthabern, oder eine Reise zu ihnen, es ist immer eine Prüfungsgeschichte, auch wenn nicht so explizit Prüfungsfragen gestellt werden wie in der ersten "Oberförster"-Geschichte. Das Einstellungsgespräch bei dem hoffmannesken Zapparoni in "Gläserne Bienen" ist so eine Prüfung, ebenso das Diagnosegespräch mit der Fürstin in "Der Hippopotamus" oder das Duell in "Gefährliche Begegnung" . Der erste Anblick vergossenen Menschenbluts zu Anfang der "Stahlgewitter" ist eine Einweihung, und aus dem Krieg kehrt Jünger wie aus einem dunklen Tor an die Oberwelt zurück, um dann, mit militärischem Zungenschlag wie in "Heliopolis", für eine "neue Verwendung" zur Verfügung zu stehen. Noch seine großen Essays wie "Subtile Jagden" und "Annäherungen" kehren autobiographisch immer wieder zur Jugend zurück, sie sind (auch) Pubertäts- und Verwandlungsgeschichten.

Ähnlich Schmidt: Es sind immer Reisegeschichten, der Metaphorik nach Unterweltsreisen wie im Mythos. Name und Vergangenheit des Reisenden sind oft unbestimmt; er gerät an ein oder zwei (nur äußerlich gegensätzliche) Frauen, es ergibt sich eine Romanze, am Ende steht eine Trennung. In den späteren Typoskriptromanen ist zwar die Bewegungsrichtung umgekehrt, Schmidts Helden sind ortsfest und werden selbst besucht, das (Prüfungs-) Muster bleibt aber gleich. Es sind wie bei Jünger "Rites de passage", Initiationsgeschichten, bei Schmidt eher die alte matriarchalische, bei Jünger die patriarchalische Variante, wobei in beiden Fällen der jeweils vernachlässigte Aspekt dennoch immer präsent ist; Schmidts Vatergeschichten finden sich eher in den frühen Stücken.

Mircea Eliade , der Jünger wohl mit dem Thema begrifflich bekannt gemacht und der mit ihm zusammen auch eine Zeitschrift herausgegeben hat, definiert Initiation als "Gesamtheit von Riten und mündlichen Lehren, die den Zweck haben, eine radikale Veränderung des religiösen Status der Person zu bewirken, die eingeweiht werden soll. Im philosophischen Sprachgebrauch ist die Initiation gleich einer ontologischen Mutation des existentiellen Zustandes. Der Novize steigt aus seiner Prüfung als ein vollkommen anderes Wesen heraus". Eliade unterscheidet verschiedene Initiationstypen, die Altersklasseninitiation (literarisch: Pubertätsgeschichte, "Unterm Rad" zum Beispiel, "Frühlings Erwachen", überhaupt wilhelminische Schulgeschichten aller Art), die Initiation in Geheimgesellschaften (Bundesromane wie der von Schmidt wiederentdeckte "Dya Na Sore", mit Anklängen bis zur Turmgesellschaft des "Wilhelm Meister") und die in den Schamanismus, eine religiöse oder auch eine in die Poesie.

Aus Mythos und Ritual wird eine Erzählstruktur:Ein dreistufiger Ablauf aus Trennung von der bisherigen Umwelt, Prüfungsabenteuer (meist eine Unterweltsreise) und Wiedergeburt, bekannt aus zahllosen Mythen, von Theseus' Labyrinth-Abenteuer über Iasons Argonautenfahrt bis zu den Arbeiten des Herakles; Joseph Campbell möchte darin den Monomythos sehen, das Muster, das allen Mythen gemeinsam ist. Campbell war Schmidt wenigstens als Verfasser des "Skeleton Key to Finegans Wake" bekannt. Als Begriff taucht Initiationsgeschichte bei ihm nicht auf, trotz seiner zahllosen Unterweltsreisen (es gibt auch einen Radioessay von ihm zu diesem Thema), anders als bei Jünger, wenigstens seit seiner Bekanntschaft mit Mircea Eliade . - Eine konstitutive Figur wenigstens der patriarchalischen Initiation tritt bei Schmidt, anders als bei Jünger, zusehends in den Hintergrund, der Mentor, der den Adepten bei seiner Prüfung leitet; die merkurischen Begleiter der Unterweltsreisen seiner frühen Geschichten sind eher grobe Spottfiguren, er ist eine Generation jünger als Jünger, und die nicht mehr wilhelminische vaterlose Gesellschaft kündigt sich an. - In Jüngers "Eumeswil" werden am Ende ziemlich unvermittelt auch die Väter initiationsbedürftig, verlassen ihren Burgberg und ziehen in den Wald - ein spätes Dementi seiner wilhelminischen Welt. - Ob dieser Roman außer Jüngers Modell (Mythos) seiner eigenen Welt (Wilhelminismus plus Pariser Generalstab) auch die der Zeitgenossen beschreibt, ist eine offene Frage: Die wenigsten werden heute eine Kasbah von Machthabern zu ihren Häupten spüren, und wenn es doch eine geben sollte, ist die mit Leuten wie Bill Gates und Andy Grove besetzt, die zwar Interesse an Wachstum, nicht aber an Jüngerschen "Großen Wandlungen" zeigen.

Ein Blick auf "Besuch auf Godenholm" mag Jüngers Variante verdeutlichen, und noch einmal seine gemeindebildenden Mechanismen. Der Arzt Moltner, (die Schopenhauer ische "Vorstellungs"-Seite Jüngers), und der Historiker Einar, (die "Willens"-Seite), besuchen den auf einer Insel im skandinavischen Norden residierenden Schwarzenberg, eine von Jüngers Macht- und Vaterfiguren, das Gegenstück des Oberförsters der "Marmorklippen". Schwarzenberg, aus baltischem Adel und von einer westfälischen Mutter (Zweites Gesicht!), hat lange Reisen unternommen, unter anderem in "damals noch fast unbekannte Gebiete Asiens" - die "Andere Seite" Kubins (mit dem Jünger befreundet war), auch eine Reise zum Vater, läßt grüßen. Mit Andeutungen von Drogengenuß beginnt das Ritual; Schwarzenberg, von Moltner zunächst als "Charlatan" abgetan, ist der Seelengeleiter, der Mentor, der die Adepten in die elterlichen Reiche führt: Moltners Initiationsreise ist eine Unterwasserreise, nicht ohne Zauber geschildert, die Einars eine Unterweltsreise und eine ins "Feuermeer", mit Anklängen an die Völuspa. - "Ja, das war Macht, was da heraufklang": Ein Blauhai, "mächtig, lautlos, fast ohne Flossenschlag", wird zum Urbild der von Jünger so gewünschten désinvolture; es geht um ein Sein, das "reine Macht ist und daher Macht nicht erstrebt und nicht erstreben kann" - Jüngers Thema also, nichts Neues. Der Ausgang der Initiation ist allerdings bemerkenswert: "Ja, eine große Verwandlung war geglückt""...als ob ihnen der Star gestochen sei" usw. - Jünger erfüllt sich (und seinen Lesern, literarisch) seinen Initiationswunsch, stellt ihn jedenfalls als erfüllbar dar. Bei konventionellen Initiationsgeschichten amerikanischer Prägung (Huckleberry Finn, Hemingways Nick-Adams-Geschichten, Catcher in the Rye usw.), wo es um die Einführung in die Gesellschaft geht, keine Seltenheit. Jünger hingegen tut so, als käme er gerade von der Anderen Seite zurück, metaphysischer Weisheiten voll. Die Grenze zur Charlatanerie wird überschritten, wo Wünsche derart magisch realisiert oder als realisierbar dargestellt werden. - Diese Hemmungslosigkeit der Wunscherfüllung ist eine Ausnahme in Jüngers Initiations-Szenarios; meist ist das Ende eher offen wie in "Aladins Problem" und "Eumeswil"oder es ist Desillusionierung wie in "Afrikanische Spiele" oder in "Ortners Erzählung" aus "Heliopolis", der Geschichte eines Teufelsbündnisses und der Voyeurstraum von der Tarnkappe.

Mit Wunscherfüllungen ködert man Leser. Auch Schmidt bemüht sich mit allerhand Tricks um den Leser, "alles ist nämlich rastaquouèresk, meine lieben Leute" ( Walter Serner ), und Charlatanerie, das Schielen nach dem Leser, gehört zur Schriftstellerei (Paul Valéry, von Jünger zitiert). Nur bleibt Schmidt bei seinem Trickster-Leisten, seine Leser-Nasführungen und seine biographischen Schwindeleien sind ein Kinderspiel verglichen mit den Wunscherfüllungen, die der Seelenführer Jünger seinen Lesern verspricht. Schmidt hat keine Gemeindebildung im engeren Sinn provoziert - die war ihm wohl auch lästig - und seine "Träumungen" nie "mit dem Wort 'Wahrheit'" beschwert, sie kommt aber aus denselben Quellen wie die Jüngersche. Auch bei Schmidt sind die Wünsche die Triebfeder des Schreibens: Seine Hauptfiguren sind Macht- und Wunschphantasien wie bei Karl May, wie bei Ernst Jünger, nur realistischer, gebrochener. Schmidt versuchte in seinen späteren mehrspaltig gesetzten Büchern gerade das Neben- und Gegeneinander von Wünschen und Realität, von Wahrnehmung und was im (Unter-)Bewußtsein die Wünsche daraus machen, abzubilden - inwieweit das gelungen ist, wäre zu untersuchen. - Die Zerstörungsorgie des "Faun" ist reine Wunschmagie, ähnlich "Schwarze Spiegel", worin der Rest der Welt weggesprengt ist/wird, um das Wiedersehen mit der Jugendfreundin ungestört herbeiphantasieren zu können. "'Romane sind immer WunschErfüllungen': sô müßt' es heißn'" - so hat Schmidt gesagt, aber nicht getan: Das Ende seiner Initiationsgeschichten ist meist Trennung, manchmal Flucht ("Gelehrtenrepublik", "Caliban über Setebos"), bestenfalls open end, nirgends aber Wunscherfüllung, die auch Jünger nur einmal sich erlaubt hat.

Initiation bei Jünger ist auch ein Deutungsmuster sozialer und politischer Tatbestände, des Krieges und des NS etwa. Seine Bilder von "Schlangenhäutungen" und anderen "Großen Wandlungen" können hier nicht alle zitiert werden. Eine besondere Rolle in diesem Zusammenhang spielt aber ein sehr deutsches Stück aus seiner Mythologie, der Wald. Er ist

"das große Todeshaus, der Sitz vernichtender Gefahr. Es ist die Aufgabe des Seelenführers, den von ihm Geführten an der Hand dorthin zu leiten, damit er die Furcht verliert".

Der selbst initiationsbedürftige Jünger spielt gern den Mentor, den "Seelenführer". - Im Walde haust auch der "Oberförster", die personifizierte "vernichtende Gefahr". Auch der Herrscher von Eumeswil und in seinem Troß Venator, Jüngers Hauptfigur, ziehen am Ende in 'den Wald', der von nach einem Atomkrieg mutierten Lebensformen bewohnt ist. - Ein Fabrikant von Robotern mit dem hoffmannesken Namen Zapparoni, in "Gläserne Bienen" , ist eine Variante des Oberförsters, noch der Kargané der "Gefährlichen Begegnung" , einer Duellgeschichte aus der Zeit der Jahrhundertwende, ist eine Erinnerung an ihn. "Die Zwille", eine Parallele zu Schmidts Projekt "Portrait einer Klasse" ) ist als wilhelminische Schulgeschichte per se eine Initiationsgeschichte, in "Aladins Problem" klingt mit seinen Totenstädten usw. die Unterweltsreise an; "Ortners Erzählung" aus "Heliopolis" ist eine Initiationsgeschichte wie der ganze Roman, wie früher schon "Afrikanische Spiele" . - Schließlich wird Jünger auch das Schreiben selbst zur Initiation, schon gar wenn es um "Annäherungen" , um das Thema Rausch geht: "Die eigentliche Arbeit war weniger darauf gerichtet, ein Buch zu schreiben, als einen Apparat zu konstruieren, ein Fahrzeug, das man nicht als derselbe verläßt, der eingestiegen ist".

Neben der bewußten Verwendung des Musters, jedenfalls in den späteren Stücken auch als Deutungsmuster, scheint der Hauptunterschied der Jüngerschen zu Schmidts Initiationsgeschichten in der fast ausschließlich patriarchalischen Ausrichtung Jüngers zu liegen, seine Initiation ist Vatersuche, es wimmelt bei ihm, vor allem in "Heliopolis" - "Eumeswil" , nur so von Mentoren, geistig-geistlichen Vätern, Nigromontanus - Schwarzenberg ist Jüngers Urbild der merkurischen Variante im Gegensatz zur saturnischen des Oberförsters. Große Mütter, von denen nach Meinung der Mythologen das Ritual eigentlich stammt, spielen anders als bei Schmidt nur am Rande eine Rolle. Schmidts matriarchalische Initiation trägt zudem orphisch-schamanistische Züge ( "Caliban über Setebos" ist eine Orpheus-Geschichte), es ist eine Initiation in die Poesie, daher seine häufige Fiktion hinterlassener Papiere. Seine Initiationsreisen gehen zur "Weißen Göttin des Todes und der Inspiration", zur Isis in beiderlei Gestalt, der mütterlichen wie der mädchenhaften, nach Hans Peter Duerr patriarchalisch "gejungferten",. In "Schule der Atheisten" läßt Schmidt die Isis leibhaftig auftrteten, in "Schwarze Spiegel" zitatweise als Keats' "Belle Dame sans Merci" (nach Ranke-Graves eine Mädchen-Variante der Weißen Göttin). In ihrer Reduktion auf wenige Figuren ist "Schwarze Spiegel" ein Gegenstück zu Jüngers Geschichte. Eine Grenzüberschreitung zu Anfang und die Häufung entsprechender Metaphern signalisieren zunächst eine Unterweltsreise; der namenlose Initiand errichtet seine Initiationshütte in der Wildnis, die erwartete Diana erscheint, er legt seine Prüfung in Gestalt der Erzählung seiner Kindheitgeschichte ab und bleibt schließlich in seinem initiatorischen Zwischenreich allein zurück, wie meistens in Schmidts Geschichten. Anders als bei Jünger gibt es bei Schmidt keine Rückkehr, keine Wiedergeburt, es sei denn als hinterlassene Papiere, als Poesie. So gut wie alle Geschichten Schmidts lassen sich als Varianten dieses Musters lesen, auch ein an der Oberfläche so realistischer Roman wie "Das Steinerne Herz" mit seinen Fünfziger-Jahre-Odeurs. Eliade hat darauf hingewiesen, daß die Psychoanalyse als Abstieg ins Unbewußte initiatorische Strukturen aufweist, und "Zettel's Traum" ist als Selbstanalyse auch eine Initiationsgeschichte.

Nicht nur ihre Bilder sind also dieselben, auch die Struktur ihrer Geschichten, und hinter den Bildern stehen gemeinsame Wünsche, Initiationsziele. Macht ist die Maßeinheit auf dieser Skala der Initiationswünsche zwischen Autonomie und Regression. Nach Deleuze / Guattari könnte man beider Sachen als "Wunschmaschinen" sehen, reflektiertere als die der Trivialliteratur, aber ähnlich in ihrer Wirkung.

Die Initiationsgeschichte kann als Konzentration des Entwicklungsromans auf sein Grundmuster gelesen werden, sein Kern, als - vorwiegend amerikanische - Variante des "Wilhelm Meister", als Kreuzung aus Kurzgeschichte und Entwicklungsroman. Explizit in die deutschen Literatur eingeführt hat das Thema Thomas Mann in seinem Princetoner Vortrag über den "Zauberberg", in der französischen ist Marcel Brion ("Die Stadt im Sand") eher eine Ausnahme, trotz der mit den Angelsachsen gemeinsamen keltischen Tradition.

In eben dieser reduzierten Form überlebt der Entwicklungsroman in Deutschland, Rilke s "Malte Laurids Brigge" ist ein frühes Beispiel, die wilhelminischen Schulgeschichten gehören dazu, neben Schmidt und Jünger ist vor allem Franz Fühmann ("Im Berg", "Drei Tage von zweiundzwanzig: Budapest" usw.) Zu nennen, von den jüngeren Rolf Dieter Brinkmann ("Rom, Blicke") und besonders Peter Handke , von "Der kurze Brief zum langen Abschied" bis zu "Mein Jahr in der Niemandsbucht", wo bereits im ersten Satz das Thema genannt wird: Verwandlung. Bei den beiden letzteren fehlt wie bei Schmidt der Mentor, als der Repräsentant der Gesellschaft, in die initiiert werden soll; für beide ist statt dessen Wahrnehmung der initiatorische Mentor, die Epiphanie, aber eine, anders als bei Schmidt, 'entschwefelte', noch einmal säkularisierte, es gibt bei den Jüngeren, jedenfalls der Absicht nach, kein Sich-Zurückfallenlassen in den Mythos.

Trotz aller Vatermorde und verwandter Töne bei Schmidt: Selbst wenn seine/solche Geschichten bloß "Träume einer unterdrückten Pubertät" ( Oswald Wiener ) wären, sagt das noch nichts über ihre Qualität, sonst wären auch Kafka oder Kleist abgetan, was kein Werturteil sein soll. Verwandlungsträume sind nicht weniger eine anthropologische Konstante als Machtträume, vom Mythos bis zur gegenwärtigen Esoterikkonjunktur, und außerdem: Wie hätte Wiener bei Schmidt die vielen Anknüpfungspunkte finden können für seine ausführlich-"flüchtige Zurückweisung", ausgesprochene wie unausgesprochene? Seine Broschüre bleibt trotz ihres wienerischen Tons das beste, was über Schmidt bisher geschrieben wurde, bisher ohne Antwort aus der Gemeinde, die sich lieber über den Herrn Henkel echauffiert (da hat mans leichter).

Initiationen sind Prüfungen, es steckt in ihnen immer noch das Thema Macht.

Lebensform: Doppelleben

Eines der wenigen Stücke Schmidts, in dem einer seiner Protagonisten eine (äußere) Macht über sich dulden muß, ist "Aus dem Leben eines Fauns" : Der Held ist eine Art kleinbürgerlicher "Steppenwolf" (für diesen Roman hatte Schmidt ein Faible), ein Beamter mittleren Alters in einem Landratsamt während der NS-Zeit, der sich eine zufällig, aber wunschgemäß gefundene Hütte für ein nächtliches (nicht erzähltes) "Fauns"-Doppelleben einrichtet. Analog dazu das doppelte Doppelleben in Jüngers "Eumeswil" : Der Held ist akademischer Historiker und zugleich Nachsteward auf der Kasbah, der Machtzentrale eines modellhaft gemeinten mythisch-utopisch-postmodernen Stadtstaats; daneben richtet er sich ähnlich wie Schmidts Beamter in einem zufällig gefundenen aufgelassenen Bunker in der Wildnis noch ein initiatorisches "Plätzchen für die Häutung" ein, für sein Doppelleben. Schmidts "Schule der Atheisten" ist in mancher Hinsicht eine vergrößerte Wiederholung des "Faun", mit einer Isis statt eines lächerlichen Landrats als Machtzentrum, und aus der Initiationshütte des subalternen Beamten ist der eigene Staat ("Reservat") eines Senators geworden; der Roman ist kurz nach dem Ballyhoo-Erfolg von "Zettel's Traum" entstanden. Der Umgang mit den Mächtigen hat in beiden Romanen Schmidts nebem dem pubertären einen bluffenden, trickstermäßigen Zug, zu Überlebenszwecken. Jüngers Hauptfiguren sind eher autoritätsbedürftige Trabanten und Voyeure der Macht, in "Eumeswil" wie in "Heliopolis" . Beide Romane Jüngers verarbeiten Erfahrungen im "Dotter des Leviathans", im Pariser Stab des deutschen Oberbefehlshabers. Schmidts und Jüngers Romane sind chronologisch immer nahe beieinander, beide reflektieren das Leben in/unter/mit einer Diktatur, Jünger scheint auch Schmidts Roman zu zitieren.

Zwischen der Macht der Realität und der Macht der Wünsche spielen Schmidts wie Jüngers Geschichten; Maskierung, Lethen s 'kalte persona', Doppelleben, ist Schmidts wie Jüngers Lösung, wie die Gottfried Benns ( und E. T. A. Hoffmanns, der für Schmidt eine leider noch nicht untersuchte wichtige Rolle spielte), und zwar wie schon Benn offenbar unabhängig vom aktuellen politischen System: "Heutzutage kann man nur noch halb entkommen. Bei der dichten Besiedelung! (Oder, anders: man muß sich teilen; doppelt leben; verbrennt dann schneller. Fern jeglichem Christenparadies)" ( "Aus dem Leben eines Fauns" ). Der Roman ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema Macht, vom ersten Satz an, mit den Regeln dafür, was "man nicht soll" und was Düring dann doch tut. Das erste Kapitel schildert den äußeren Alltag des Beamten, führt die Macht der Realität vor; von kosmischen Mächten wie dem Mond, der ihm Pfeile in den Rücken zu schießen scheint, über Nietzsche und den Papst führt ein roter Faden bis zum Gespräch mit Dürings Chef. Das liest sich zunächst wie eine von Schmidts vielen auftrumpfenden Karl-May-Szenen, wird dann aber derart wissenschaftlich-mythologisch überhöht, daß der Ernst des Themas spürbar wird: Zunächst konstruiert er dem Landrat eine bedrohliche Kosmologie mehrdimensionaler Welten vor, deren eine von der nächsthöheren "überschattet" werde; danach, im Selbstgespräch, wird dann aber diese Wissenschaft auf ihren mythischen Kern zurückgeführt - mit Wissenschaft läßt sich trickstermäßig gut bluffen, eigentlich geht es aber um Mythos (ähnlich schon im "Leviathan"). Als gnostisch-patriarchalische Genealogie der Materie - d. i. "Tränen, Lachen und Entsetzen" - zitiert Düring aus der Philosophiegeschichte des alten Brucker seine eigene. Genealogie ist nicht nur eine mythische Denkform, sie ist auch eine Metapher des Zwangs, des Determinismus, der Macht. - Das zweite Kapitel schildert die Gegenwelt, Dürings Wünsche, in mehrerlei Gestalt, als Insel Felsenburg (mit Variationen) und als Nachbarstochter ("Wölfin" genannt), auch das ist eine Initiationsgeschichte. - Das dritte Kapitel folgt nicht nur nach, sondern aus den beiden ersten¸ es demonstriert die Macht der Wünsche, unter anderem in Gestalt des oben zitierten herbeigezauberten Bombenangriffs, der zugleich eine Rachephantasie ist und den Boden bereiten soll für eine Initiation.

Schmidts "Faun" ist eine kleinbürgerliche Variante des Jüngerschen "Anarchen" Venator aus "Eumeswil", ein früher postmoderner Historiker auch er, der sich aus der Vergangenheit seinen Mythos, seine Identität holt, aber eben bloß ein Lokalhistoriker ohne überzeitlichen Anspruch wie Jünger. Der Jüngerschen machtfixierten Mischung aus Hobbes' Machtbewußtsein, Stoizismus und Voyeurismus ("Der beste Posten ist der, an dem man viel sieht und wenig gesehen wird") entsprechen bei Schmidt eher Fluchttendenzen, andererseits ist er aber auch bereit, den Machthaber zu spielen, und zwar auf eine viel radikalere Art als Jünger. - Beide Figuren sind auch eine anschauliche Variante des oben zitierten "Mittelpunkts"-Satzes, wobei Jüngers "Freiherr" viel stärker an sein Pendant, den Monarchen gebunden bleibt, von dem er nur ein Spiegelbild ist, bis zu seinem Bunker, der wie die Kasbah des Machthabers auf einer Anhöhe steht (analog zur Wohnung des Patriarchen der "Insel Felsenburg"). Überhaupt hält Jünger anders als Schmidt nichts von Vatermord:

"Wenn ich den Vater töte, falle ich dem Bruder in die Hand. Von der Gesellschaft ist ebenso wenig zu erhoffen wie vom Staat. Das Heil liegt im Einzelnen".

Familialismus

Macht ist Schmidts und Jüngers gemeinsamer Nenner, ablesbar an ihren Wünschen, ihren Bildern physischer Gewalt, ihrem Verhältnis zum Leser, ihrem gemeinsamen Erzählmuster - aber mit unterschiedlicher Perspektive: Von unten bei Schmidt (mit einer Tendenz zur Identifikation mit dem Aggressor), voyeuristisch schräg von der Seite bei Jünger. Beide können sich Freiheit nur in Form von Macht vorstellen. Die Initiationsgeschichte, "dieses ewige Mutterschluchzen, diese ewigen Papa-Diskussion" ( Deleuze / Guattari ), als Ausdruck des double bind an beide Elternteile zugleich ist geradezu die primäre literarische Form des Themas der Machtfixierung, aber eben auch des Wunsches nach Autonomie. - In der Familie werden Machtverhältnisse zuerst eingeübt, und Familie bleibt ein Dauerthema Schmidts, nicht nur in Form von Initiationsgeschichten, sondern durchgängig von der gnostischen Genealogie des "Faun" bis zur theatermäßigen Inszenierung der drei Freudschen Persönlichkeits-"Instanzen" als Familiendrama in "Zettel's Traum", und bis zu "Abend mit Goldrand" . "Familialismus", die Reduktion der psychischen Phänomene auf das 'ödipale Dreieck', den Deleuze / Guattari in ihrem "Anti-Ödipus" gerade der Psychoanalyse vorwerfen, ist also ein anderes Wort für Schmidts wie Jüngers Machtfixierung, ein Synonym für den Komplex aus Macht, Mythos, Familie und Psychoanalyse zugleich, und was die beiden Psychologen der traditionellen Psychoanalyse nachsagen, gilt auch für diese beiden Schriftsteller: "Statt an der wirklichen Befreiung mitzuwirken, ist die Psychoanalyse Teil jenes allgemeinen bürgerlichen Werkes der Repression, das darin besteht, die europäische Menschheit unter dem Joch von Papa-Mama zu belassen und nie mit diesem Problem zu brechen ". - Andererseits sind bei diesem Vergleich auch Stücke von Deleuze / Guattaris 'Wunschmaschinen' zutage getreten, Motoren eines "elternlosen Prozesses" und Gegenspielern des Familialismus. - Schmidts wie Jüngers Werk bleibt in vieler Hinsicht Plusquamperfekt, in der Vergangenheit, vor allem der Wilhelminischen Epoche, abgeschlossen. Modern sind diese beiden "Alt=Modernen" (Schmidt über sich selbst) als Erben der Romantik, insoweit die Subjektivität der Wahrnehmung ihr Schreiben ebenso bestimmt wie der Mythos.

Alt=modern ist auch das Thema des Umgangs der Intellektuellen mit der Macht.  Was provoziert an den neuesten politischen Äußerungen von Hans Magnus Enzensberger, Botho Strauß und Peter Handke, ist der Wechsel der Schreibperspektive vom "Geist" hin zur "Macht", zynischer, feierlicher oder noch don-quichotesker als bei diesen beiden Vorfahren.

Zum ersten Teil
 

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© Hartmut Dietz 1995