"Lust- & Mordgedanken"

Arno Schmidt und Ernst Jünger

 

Natürlich drängt es auch
einen Schreiber an die Macht,
aber an eine grundandere
Peter Handke

Study ritual not belief
Bronislaw Malinowski

 

(Gemeinsame) Hauptthemen: Gewalt  / Denk- und Wahrnehmungsformen (Literatur, Mythos, Epiphanie) / Gemeindebildung / Initiation als Erzählmuster / Doppelleben  / Resumee: "Familialismus"

 

Entvölkerungspolitik

"Ich will Ihnen den Dolch nur gleich recht ins feinsinnige Herz drücken". Rhetorische Morde wie dieser aus seinem "Bericht vom Nicht=Mörder" Charles Dickens und dessen "Mord-Instinkten" sind bei dem notorischen Antimilitaristen / Atheisten und Rhetoriker des Mitleidens Arno Schmidt keine Seltenheit. Einer seiner Protagonisten rennt einem frühchristlichen Priester eine Glaubensfrage in den Leib, "scheinbar harmlos, aber das Messer saß, so bäumte sich der fromme Alterszwitter auf". Schmidt stellt "Widerbellern" der Etymtheorie in "Zettel's Traum" "Amortisierung" in Aussicht. Er wiederholt die mehrdeutige Vorstellung von in Menschenhaut gebundenen Büchern ("nur" ein ein Zitat aus Freys "Solneman"?), einmal auch im Kontext von Eugen Kogons "SS-Staat". Schmidt kann über dem Thema aber auch ausführlicher werden, etwa bei der Tötung eines "Machtschufts" in einer seiner Antike-Erzählungen:

"Da zog ich die Sehne an, an, durch, bis zur Brust - und ließ los ! [....] - Da fuhr seine Hand zur Gurgel; er taumelte, wankte im Sattel, und ich sah, wie aus dem Genick blinkend die Silberspitze hervordrang".

Autor und Ich-Erzähler sind natürlich auseinanderzuhalten, bei Schmidt aber nicht allzuweit: Seine Figuren sind offensichtlich Wunschprojektionen ihres Autors, und dessen Erzählprozeß ist eine Mischung aus realistischer Prüfung seiner Wünsche und ihrer Verdrängung / Sublimierung. Ein großer Teil seiner literarischen "Traditionswahl" fällt übrigens auf vergleichbare victorianisch-doppelbödige Verdrängungskünstler, nicht nur Dickens und Bulwer-Lytton, auch Stifter gehört dazu. Zudem gibt es ein verdrehtes, aber deutliches, häufiges und  ambivalentes Interesse Schmidts an literarischen Machtfiguren und -phantasien, etwa am Conte Fosco Wilkie Collins ', an Stifters "Witiko", an Karl May, an "Dya Na Sore", an Poes "Hop-Frog", an Alexander, an puritanischen Königsmördern, an Marat.

Weiter mit Schmidts Gewalttätigkeit: Die bleibt nicht nur rhetorisch oder episodisch, sie kann zu "Weltvernichtungsapparaten" sich auswachsen, erotisch gefärbten, wie in dem zur NS-Zeit spielenden Roman "Aus dem Leben eines Fauns" . Dessen Hauptfigur zaubert mit Fouqué-Versen einen Bombenangriff herbei und genießt das Ergebnis:

"Eine glühende Leiche fiel schmachtend vor mir auf die Kniee, und brachte ihr qualmendes Ständchen; ein Arm flackerte noch und schmorte keck [...] Die Nacht schmatzte wieder mit vielen blanken Lippen und Zungen, und zeigte ein paar reizvolle Entkleidungen, daß die bunten Klunkern umherrieselten [...]",

und so weiter, seitenlang. Das Resultat dieser Weltvernichtung wird dann in "Schwarze Spiegel" besichigt, an der Oberfläche eine Mischung aus Warnutopie und Robinsonade - der Held ist der wunderbarerweise einzig Überlebende eines Atomkriegs in Mitteleuropa - der Substanz nach aber eine Wunschphantasie: Schmidt beschreibt die totale Beherrschung der Welt deutlich mit demselben Genuß wie ihre Zerstörung.

"Aber wenn man selbst voll Lust hinterm Maschinengewehr hockt, dann ist das Gewimmel da vorn nicht mehr als ein Mückentanz. Zum Dauerfeuer! Hei, wie das spritzt! Da kann gar nicht genug Blei aus der Mündung fliegen [ ... ]. Das ist das Bedürfnis des Blutes nach Festfreude und Feierlichkeit".

Das ist aus Ernst Jüngers "Kampf als inneres Erlebnis", die Verkürzung des Zitats soll lediglich, im Hinblick auf den Nachsatz, einen ersten Unterschied deutlich machen: Jünger zeigt, anders als Schmidt, ein Legitimationsbedürfnis für seine Gewaltphantasien, hier mittels Mythos. Jüngers Tötungen sind zufällig, nicht gezielt: "Ein wüstes Spiel wickelte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Ich hielt meine Pistole mitten in ein Gesicht, das mir wie eine blasse Maske aus der Dunkelheit entgegenleuchtete. ein Schatten schlug mit quäkendem Aufschrei rücklings ins Drahtverhau. Es war ein schrecklicher Schrei". Eine Parallelstelle zur "Fauns"-Explosion, aus "Heliopolis" , mit ähnlich kaltem Blick, diesmal mit einer moralischen statt einer mythisierenden Legitimation:

"Das Haus mit seinen Fenstern und Portalen schien sich jäh von innen zu erleuchten; die Säulen und Fassaden umschlossen seine Schmelze wie Filigran. Dann brach der Giebel, und ihn spaltend schoß eine blaue Flamme mit weißgezacktem Kelchrand zum Firmament. [ ...] Der Anblick des Flammenstrahles hatte Lucius mit ungeahnter Lust durchzückt. Er fühlte jetzt höchste, standbildhafte Sicherheit und richterlichen Glanz in der Erhebung, die ungeheure Macht verleiht."

Das Haus, dessen Sprengung Jüngers Held hier genießt (und herbeigeführt hat), war eine Folterstätte, nicht die wie auch immer beschaffene Nachbarschaft, die Schmidts Held wunschgemäß in die Luft jagt.

Solche Stücke aus der "sehr alten Wissenschaft der Entvölkerungspolitik" (nach Jünger, "Reduzierung der Menschenzahl" nach Schmidt) werden eher von Jünger erwartet, der noch seine letzte Selbststilisierung als "Anarch" in "Eumeswil" über das individuelle Recht zu töten, "durch die Person hindurchgehen", definiert . Ganz so eindeutig wie die Überschrift nahelegt, ist die Zuordnung der Tabubrüche also nicht, zu Schmidt die Darstellung von Sexualität, zu Jünger die des Tötens. Zudem sind beide Tabus nächstverwandt, eine Firma, wie Schmidts Kaufmanns-Und in der Überschrift andeutet. Jüngers Tabubruch ist allerdings radikaler, er bedroht die Erhaltung der Art, Schmidts Skandal ist nur einer im Rahmen der 50er Jahre. - Schmidts Interesse an Naturkatastrophen wäre noch zu erwähnen, "Krakatau" oder Schefers Waldbrand. - Gewalt kann auch eine don-quichoteske Seite haben, sie kann aus einer narzißtischen Wut darüber kommen, daß Wille und Vorstellung nicht zu vereinbaren sind: Düring in "Aus dem Leben eines Fauns" wünschte / zauberte den Bombenangriff erst herbei, nachdem sein nächtliches Doppelleben bedroht wurde.

Schmidt übertrifft Jünger, was Tötungsszenen angeht, wohl auch zahlenmäßig. Bei Jünger muß man danach, gar nach Äquivalenten zur kalten Explosionsorgie des "Faun", suchen, jedenfalls in den aktuellen Ausgaben. Er macht aus dem Tötenwollen des "Kriegers" nirgends einen Hehl, prahlt gelegentlich damit, widerruft diesen primären Impetus auch nie, verhält sich zum Thema von Anfang an aber vor allem stilisierend und mythisierend. Er lupft die Decke über dem Tabu und zieht sie gleich wieder darüber. Gewalt ist für ihn "gesteigertes Leben am Abgrund", Flucht- und Rauschmittel, eine initiatorische Mutprobe, "Annäherungen" schreibt auch "In Stahlgewittern" fort. Jünger schreibt nicht nur über das Töten, er hat auch etwas getan, wozu wir alle fähig sind, was wir aber nicht wahrhaben wollen: daher (nicht nur) Adornos Widerwille gegen Jünger. Zudem gibt es bei Jünger keinerlei explizite Zurücknahme, eher eine Verweigerung der Reflexion dieses Themas - Gewalt ist ein Stück Natur.

Schmidts Gewalt kommt zuerst aus dem Ressentiment des "Schreckensmannes", Marat wird mehrfach erwähnt und Sätze wie der aus dem "Zweiten Programm" - "Die Welt hat nicht eher Ruhe, bis der letzte Minister=General am Darm des letzten Pfaffen gehängt ist" klingen nach Marat ( der Satz variiert ein u. a. von Lombroso überlieferten Spruch aus der Zeit der französischen Revolution) - : es gibt, außer einigen Schimpfereien und ein paar weiteren Marat-Statements keine Affinität zu politischen Ideologien bei Schmidt, auch nicht zu republikanischen. Ein zweiter Aspekt mag dem immer wiederkehrenden Zorn des Don Quichote zu vergleichen sein - generell gegen die Wirklichkeit, die den eigenen Wünschen partout nicht folgen will. - Die unterschiedliche Herkunft mag eine Rolle spielen, kleinbürgerlich bei Schmidt, bürgerlich-anbrüchig bei Jünger. Schmidts Morde sind Vatermorde an "allen irgendwie Herrschenden", an politischen, religiösen oder familiären Machthabern. Mutprobe oder Vatermord, beider Umgang mit Gewalt ist pubertär. Schmidt veranstaltet aber eben auch Weltvernichtungsapparate, und auch da ist er radikaler als Jünger, der gegen diese Apparate die Individualität des "Kriegers" behaupten wollte, wie Don Quichote, den Jünger gar nicht komisch fand, - und den natürlich auch Schmidt gelesen hat, "in der Ursprache". - Einen freiwillig- unfreiwilligen Zug von Komik und Selbstironie können die Jüngerschen Mutproben auch sonst enthalten, etwa in der Schlußpointe von "In Stahlgewittern": Um ihre Fitness zu beweisen, 'eskaladieren' einige verwundete Leutnants um die Wette über die Sessel ihrer Krankenstube, worauf (temporal) der bekannteste von ihnen den Orden Pour le Mérite erhält. - Karl-May -Verwandte sind auch Schmidts Protagonisten.

Es fehlt bei Schmidt trotz aller Affinität zum Mythos, die er mit Jünger teilt, jeder Überhöhungs- oder Rechtfertigungsversuch: Trickster, das sind seine Hauptfiguren alle, sind keine Ideologen und verspüren wenig Lust am Untergang: Es gibt bei Schmidt kein Äquivalent zu Jüngers sehr deutschem Mythos vom "Verlorenen Posten" , Etzels Saal also. Jüngers Umgang mit Gewalt ist literarisch vorgeprägt, ähnlich ist wieder die narzißtischen Kälte des Blicks, etwa in den zitierten Explosionsorgien, "Menschenhaß aus Menschenliebe" (Jörg Drews ) bei Schmidt ist angesichts dessen erzählerischer Taten ein Euphemismus. Daß es sich einerseits um Phantasieren, andererseits um Tun (gemischt mit Phantasieren) handelt, macht keinen wirklichen Unterschied.

Hinter dem Thema Gewalt steht ein ähnlich darwinistisches Bild der Natur als Fressen und Gefressenwerden, das von Schmidt zum "Leviathan" mythisiert wurde. Seit dem Erscheinen dieser Erstlingserzählung, einer metaphysischen Konstruktion aus gnostischen und naturwissenschaftlichen Lesefrüchten, Schopenhauer und Edgar Allan Poe, verfolgt Ernst Jünger, nach Armin Mohlers Bericht, die Produktion Schmidts, den er als niedersächsischen Diderot sieht. Schmidt seinerseits hat Jünger nur nebenbei und nach dem stahlgewittrigen Klischee wahrgenommen. Die Bewertung dieses Natur-Bildes ist allerdings gegensätzlich, Schmidt leitet daraus seinen Atheismus ab, seine Vatermorde, Jünger möchte "hinter der Verbrennung die Veränderung" sehen; Napoleons Wort von der "consomption forte" angesichts eines seiner Schlachtfelder macht Jünger "inniges Vergnügen". Dahinter wiederum stecken ein pantheistischer - ruchloser, würde Schopenhauer sagen - Optimismus romantischer Provenienz und eine angesichts Jüngers sonstiger stirnerianischen Neigungen bemerkenswerte, öfter zu bemerkende, Nichtachtung des Einzelnen.

Macht ist eine anthropologische Konstante, es ist also zunächst trivial, das Thema auch bei diesen beiden Schriftstellern zu finden. Bei genauerer Lektüre häufen sich aber die Parallelstellen, von Details bis zum lebenslangen "poncif" (Baudelaire, von Jünger gerne zitiert), dem gemeinsamen Web- und Erzählmuster, daß ein Vergleich eben doch sinnvoll erscheint. Zudem reizt es, wider den Stachel der Klischees zu löcken, "widerlicher Kerl, träumt meine Träume", soll Adorno über Jünger gesagt haben.

Wahrnehmungsformen: Mythen, Epiphanien, Träume, Bilder, Zitate

... und nicht Begriffe, wäre zu ergänzen, Jüngers philosophischen Essays, Schmidts Selbstinszenierungen als Hersteller von "Berechnungen" und Sprach"theorien" zum Trotz. Beide denken in Bildern und mit den Augen, Voyeurismus inklusive. - Die wichtigen, wiederkehrenden Bilder der Schmidt und Jünger gemeinsamen Wunsch- und Angst-Bilderwelt lassen sich zwei Polen zuordnen: Macht und Machtlosigkeit, Ich und Ichlosigkeit, Autonomie und Determinismus (Schopenhauer spielt bei beiden eine gewisse Rolle), zitatweise gesprochen, der Messingstadt und dem Malstrom. Schmidt kannte das Stück aus Tausendundeiner Nacht so gut wie Jünger und hat es als "Schwarze Spiegel" wiedererfunden. - Der Malstrom ist einer von Poes Wiederholungszwängen, von der gleichnamigen Erzählung über "MS. Found in a Bottle" und "Arthur Gordon Pym" bis zu "Heureka", einer kosmologischen Phantasie, die Schmidt zum Teil wörtlich für seinen "Leviathan" benutzt hat. Der Malstrom steckt weiterhin als Spirale ein- bzw. auswärts in den "Handlungskurven" der "Berechnungen" , Schmidts Programmschrift, und auch, als, fast parodistisches, Zitat aus Poes "Arthur Gordon Pym", in "Das Steinerne Herz", wo unter anderem die über dem Sog schwebende weiße Riesengestalt aus Poes Finale als kleinbürgerliche LKW-Fahrer-Gattin wiedergeboren wird, der Sog, der von ihr ausgeht, ist vornehmlich finanzieller Natur. Wiederaufgenommen wird das Bild wenigstens noch einmal, im Finale von "Zettel's Traum" als Höhepunkt der Poe-Analyse (die eigentlich eine Schmidt-Analyse ist), und dort als "unheimliche Faszination der Klo-Grübelei" positivistisch erklärt/verdrängt wird. Das mag sich zunächst nach einer groben Version von Thomas Manns Mythenparodien anhören, Schmidts Witzeleien sind meist aber ernste Scherze, "Kalauer aus Angst vor dem was vorgeht" (Oswald Wiener), Verdrängungsmarken.

Jüngers "Strahlungen" sind voller Schiffbruchs-Lektüren, das gesamte Tagebuch ist das Logbuch eines Abstiegs in den Malstrom, der hier, wie in "Der Waldgang", als Metapher des Nihilismus dient. Es protokolliert aber zugleich auch ein Abstieg in die eigene Depression, aus der Jünger als spätbürgerlicher Romantiker wiedergeboren wird, mit zunächst theologischen, dann pantheistischen Neigungen, ein Bild also, in dem Zeit- und Selbstdiagnose eins werden. Diese Überhöhung eigener Erfahrung ins Kollektive fehlt, wie schon bei den oben zitierten Gewaltpassagen, bei Schmidt ganz, der bei seinem Leisten bleibt, seine politischen Expektorationen in "Das steinerne Herz" sind nicht 'politisch', sondern bloße Schimpferei. - Eine konkrete Parallel-Version des Malstroms: Jünger, um désinvolture bemüht:

"Wenn ich beim Frühstück in meiner Tasse rühre und das Kreisen der Schlieren verfolge, so spricht mich das Gesetz an, nach dem sich das Universum bewegt - im Wirbel der Spiralnebel, im Strudel der Milchstraßen".

Viel ausführlicher, komischer, shandyistischer (Jünger zählt sich zum "geheimen Orden der Shandyisten" wie auch Arno Schmidt) Schmidts Sprung aus der Kaffeetasse in den Kosmos:

"Kaffee : Ich wirbelte mit dem Löffel den saftigen Sud, Odhins Trost. Schaum lag netzig darauf, verdichtete sich beim Rühren, ich gab hohe Drehzahl, zog den Löffel durch die Trichtermitte heraus : zuerst rotierte da eine winzige Schaumscheibe, weißbraun und noch sinnlos; dann griff der Sog die fernen Teilchen : in Spiralform ordneten sie sich an, standen einen Augenblick lang still, wurden von der immerwachsenden Scheibe eingeschluckt : eine Spiralnebelform! Also rotieren die Spiralnebel : bloß ihrer Form halber! - Ich zeigte das Beispiel; erläuterte es am Weltall; bewies am Analogon Rotation und Kontraktion : soff kalt das Ganze: >>Kennen Sie James Fenimore Cooper?<< Niemand kannte den großen Mann; also ging ich zu Bett ..."

Poes "Descent into the Maelstrom" enthält als Handlungskurven beides, Schmidts Spirale einwärts (Abstieg, Regression) wie auswärts (Aufstieg, Autonomie). Dem entsprechen bei Schmidt wie bei Jünger zwei immer wieder variierte Wunschbilder.- Natürlich ist der Sog auch eine Suchtmetapher, wahrscheinlich Poes ursprüngliche Bildquelle.

Variante 1, Autonomie, Spirale auswärts, das erste Ziel der Wünsche: "Jeder ist Mittelpunkt  der Welt", heißt es mehrfach in Jüngers "Eumeswil" (1977), in Schmidts "Abend mit Goldrand" (1975): "'Jeder sitzt im Mittelpunkt der Welt'". Der Satz paßt zum Klischee vom "Solipsisten in der Heide", Schmidt und Jünger haben diesen Satz aber lediglich ge-, nicht erfunden, lediglich zitiert und variiert. Seine Geschichte reicht wenigstens vom hermetisch- mittelalterlichen "Buch der 24 Philosophen" bis zur parodistischen Version in Borges' "Bibliothek von Babel":

"Für jetzt mag es genügen, wenn ich den klassischen Spruch zitiere: Die Bibliothek ist eine Sphäre, deren eigentlicher Mittelpunkt jedes beliebige Sechseck, und dessen Umfang unzugänglich ist."

Die Originalversion aus dem "Buch der 24 Philosophen" lautet:

"Deus est sphaera cuius centrum ubique, circumferentia nusquam".

Der zitierte, bei Schmidt und Jünger fast identische Satz (Schmidt kennzeichnet ihn als Zitat) gehört als säkularisierte Variante in diese Tradition; eine gemeinsame Zitatquelle war bisher nicht zu finden, auch nicht bei Max Stirner. Möglicherweise ist ein Zitat der Pascal-Variante des Satzes in Poe s "Heureka" die Quelle einer parallellen Säkularisation, oder sie stammt aus anderen gemeinsamen Lektüren (Wünschen), Schopenhauer etwa. Der Satz, eine Mischung aus ptolemäischem Weltbild, postmodernem "anything goes" und Artisten-Narzißmus, ist ein Leitmotiv Jüngers vom "Arbeiter" bis zu "Strahlungen" , wo er ihn bei der Gartenarbeit (er-)findet, und bis zu "Eumeswil", und eben auch Schmidts: Von einer Robinsonade wie "Schwarze Spiegel" bis zum scheinbar kuriosen Fund einer spätantik-gnostischen Kosmologie ("Kosmas oder vom Berg des Nordens"), in der die Sonne sich um besagten Berg des Nordens dreht. Der Satz steckt u. a. als Bild in den Pano-/Dioramen von "Zettel's Traum" ebenso wie in der wiederholten Vorstellung, von einem Meteor erschlagen zu werden. Hier wie sonst auch sind Schmidts Zitate nicht bloße Kuriositäten, sondern eben Zitate, Wiederholung seiner Mythen, sie sind Teil eines Systems von Wünschen und Ängsten. Eine bildliche Analogie zu diesem Satz bei Schmidt, zunächst wieder bloß ein kurioses Zitat, diesmal aus dem alten Wieland, sind die "Fliegenden Köpfe", in der "Gelehrtenrepublik" eher eine parodistische erotische Phantasie, in "Das Steinerne Herz" mit den wiederholten Phantasien einer Dissoziation von Kopf und Körper wird deutlicher, was mit diesen Phantasien gemeint ist: Ein körperloses absolutes Bewußtsein. In "Zettel's Traum" wird das Bild, in Ergänzung zu Freuds drei psychischen Instanzen auf den Begriff einer "Vierten Instanz" gebracht, womit Schmidt unter dem Namen Humor das Freudsche Ich noch einmal erfunden hat.

Zu den "Luftschlössern" des wilhelminischen Gymnasiasten und Möchtegern-Fremdenlegionärs Berger, dem alter ego Jüngers aus "Afrikanische Spiele" , gehören der "große Ausflug durch das Planetenreich, das Leben im Ameisenpalast oder die einsame Wanderung durch die ausgestorbene Welt". Planetenreisen gibt es bei Schmidt ebenso wie die Neigung zum Bau von Luftschlössern ("Längere Gedankenspiele" in seiner Terminologie) und zu "ausgestorbenen Welten" wie etwa der Messingstadt aus Tausendundeiner Nacht . Ein absolutes Ich braucht eine absolut beherrschbare Umwelt, bei Schmidt heißt diese "Schwarze Spiegel", bei Jünger eben Messingstadt, beides kann als erzählte Variante des oben zitierten Mittelpunkt-Satzes gelesen werden. Die Messingstadt (s. a. das Projekt einer Totenstadt in "Aladins Problem") ist bei Jünger aber, anders als "Schwarze Spiegel" bei Schmidt, ein ambivalentes Bild, dessen Zitierung seine Abkehr von der Welt des Soldaten/Arbeiters andeutet: Sie ist ein eine Metapher vor allem auch der Vergänglichkeit, der Sinnlosigkeit von Macht und Gewalt. Seine Bewertung dieser Phantasien änderte sich; wie ihre gravitätische Wiederaufnahme bei seiner Beschreibung des deutschen Vormarschs durch das evakuierte Nordfrankreich in "Gärten und Straßen", zeigt:

"Das Ganze ist ein ungeheures Foyer des Todes, dessen Durchschreitung mich gewaltig erschütterte. In einem früheren Abschnitt meiner geistigen Entwicklung versenkte ich mich oftmals in Visionen einer völlig ausgestorbenen Welt, und ich will nicht bestreiten, daß diese dunklen Träumereien mir Genuß bereiteten".

Etwas von diesem Genuß ist auch eben auch "Schwarze Spiegel" anzumerken, der trauernde Blick des Emir Musa auf die Messingstadt fehlt bei Schmidt ganz, wird bestenfalls pflichtschuldigst angedeutet. Jünger hat, trotz der Affinität zum Mythos ähnlich Schmidt, eine ausgesprochene Aversion gegen Psychoanalyse und Selbstreflexion. Schmidts Verhältnis zu Freud ist allerdings auch nicht frei von "Verdrängung". "Zettel's Traum" ist zwar, im Gewande der Poe- großenteils eine Selbstanalyse, es finden sich darin aber auch genug Versuche, Freud zu verdrängen, mitsamt der Wiederkehr des Verdrängten. Schmidt hat Poe , "einen der unheimlich großen Götter meiner Jugend", zuerst übersetzt, dann in "Zettel's Traum" kommentiert.

Eine von Jüngers Analogien zu Schmidts Fliegenden Köpfen heißt zunächst "Schleife", eine "metalogische Figur" aus "Das Abenteuerliche Herz" , "eine höhere Art, sich den empirischen Verhältnissen zu entziehen", in "Strahlungen" "Selbstentfernung" genannt. In Momenten der Gefahr stelle sich eine "Teilung der inneren Kräfte" ein: "Ein Teil der beobachtenden Instanzen zieht dann aus, betrachtet den Vorgang von außen her, vielleicht von der Zimmerdecke aus. Der Auftritt wird nun zugleich sehr scharf gesehen, wie eine Erzählung, ein Traumprotokoll". ( In diesem Punkt mögen auch Jüngers Drogenerfahrungen eine Rolle spielen.) Jüngers Essay "Über den Schmerz" ist ganz um dieses Thema herumgeschrieben. - Von hier aus wäre ein Vergleich mit Lethens Untersuchung der neusachlichen "Verhaltenslehre der Kälte" möglich und deren Grundmotiv, "die Distanz zum Körper zu kultivieren". Diese Jüngerschen 'Schleifen' gehen wohl auf frühe Erfahrungen zurück, die Schrecken der wilhelminischen Schule etwa, die in "Die "Zwille" und in "Subtile Jagden" geschildert werden und die ihn noch heute für eine Abschaffung der Schulpflicht plädieren lassen. Als erzählte Figur hat Jüngers "4. Instanz" ebenfalls mehrere Inkarnationen: Sie steckte im anarchischen Krieger der "Stahlgewitter" , der dann auf den "Arbeiter" reduziert wurde; in den Fünfziger Jahren hieß sie "Waldgänger" (schon angedeutet im Partisan des "Arbeiter", dort noch mit militärisch-negativem Vorzeichen), und zuletzt, in "Eumeswil", "Anarch" (dem Gegenentwurf zum "Arbeiter").

Wunschbild 2, Verschwinden, Spirale einwärts, Regression: Bei Jünger ist das der Ameisenpalast, zuerst eine Serie nächtlicher Kinderphantasien, mit denen er seine Geschwister unterhielt, dann, als "Der Arbeiter", die "organische Konstruktion" des Insektenstaats, des bewußtlosen kollektiven Lebens, eine Zeitdiagnose /-prognose. Es ist nicht schwer, die passenden Belege aus Jüngers Text zusammenzustellen, von expliziten Ameisenvergleichen bis zum immer wiederkehrenden Thema der Maske (Photographien von Insekten machen die Herkunft der Metapher anschaulich). Was immer auch an realen Erfahrungen Jüngers aus Krieg und Großstadt im "Arbeiter" steckt, dieser Entwurf geht auf ältere Schichten zurück. Neben einem romantischen (Hoffmanns "Automate" ) ist das auch ein Thema der Literatur der Jahrhundertwende, Maurice Maeterlinck hat mehrfach über staatenbildende Insekten geschrieben. Jünger popagiert den Ameisenstaat aber nicht, er hält sich schon dort einen Fluchtweg offen: "Noch gibt es Inseln des Geistes und des Geschmackes, von erprobten Wertungen begrenzt, noch jene Molen und Wellenbrecher des Glaubens, hinter welchen der Mensch 'in Frieden stranden kann'". Auf einer dieser Inseln, der des bürgerlich-romantischen Konservatismus, ist er schließlich auch gestrandet, allen früheren Aversionen des "Abenteuerlichen Herzen" gegen die Leute von feinem Bildungsduft zum Trotz, die damals "zum Aussterben gezwungen" werden sollten. (Die Gebildeten, die nicht alle werden, nach Ernst Bloch). Rolf Dieter Brinkmann und angeblich auch RAF-Mitglieder sollen sich für den frühen Jünger interessiert haben, zu recht. - Arno Schmidts Analogie zum Ameisenstaat heißt "Verschwinden", vornehmlich in der vegetativen Natur. Als Baum sich einzuwurzeln ist eine wiederholte Wunschvorstellung, ein ganzen Buch von "Zettel's Traum" heißt "In Gesellschaft von Bäumen". Auch der Glaukos-Mythos (ZT) gehört in diesen Zusammenhang. Verschwinden können seine Figuren aber auch in der Kunst, in einem Bild etwa, wie in dem unvollendet gebliebenen "Julia" -Fragment. Bilder sind aber immer ambivalent: So wie in Jüngers Krieger sowohl Anarch als auch Arbeiter stecken, steckt in Schmidts Bäumen neben der Regression auch eine Autonomie-Metapher, als Bild der Weltachse können sie auch als Äquivalent zum oben zitierten Mittelpunkt-Satz gelesen werden.

Für beide ist Lesen Lebensform, kein Wunder also, daß die Lesewege sich kreuzen. Das geht von verschollenen Unterhaltungsschriftstellern wie Hackländer oder von Hucs Reiseberichten bis zum Tristram Shandy oder auch Schopenhauer und dem Don Quichote, dem Roman der Desillusionierung. Soweit Jünger, ähnlich wie Schmidt, seine Hauptfiguren nach einer alten deutschen Tradition als Gegensatzpaare ordnet, etwa in "Die "Zwille" , in "Besuch auf Godenholm" und in den beiden Hauptfiguren der "Gefährlichen Begegnung", sind sie deutlich nach 'Wille' und 'Vorstellung' modelliert, oder eben auch als Varianten des Cervantes. - Fechner, Ernst Fuhrmann, wie überhaupt die beiden gemeinsame romantische Tradition der Naturwissenschaft, Lorenz Oken etwa und bei Schmidt noch Dacqué , gehört hierher, insbesondere E. T. A. Hoffmann, dessen Ineinander von Alltag und Mythos bei Schmidt wiederkehrt. Und, nicht zu vergessen, Karl May.

Das sind einige thematische Korrespondenzen auf der gemeinsamen Wunschskala zwischen Determinismus und Autonomie. Es gibt aber auch bevorzugte gemeinsame Wahrnehmungsformen, und das heißt auch Schreibformen, selbst wenn Sprachoberfläche und Ton auf den ersten Blick unvergleichbar scheinen: Jüngers Starre und Präzision einerseits, Schmidts Mehrdeutigkeit, sein pubertärer Ton aus Frechheit, Angst und Melancholie andererseits. Schreib- und Wahrnehmungsformen steuern aber auch die Wahrnehmungen der Leser, und in beiden Fällen ergibt sich daraus Gemeindebildung, im Falle Schmidts stärker in einer institutionalisierten Form, und mit sektenähnlichen Abspaltungen.

Wahrnehmungsformen: Beide glauben an Träume, auch Schmidt hinter seiner rationalistischen Fassade: "Hellsehen, Wahrträumen, second sight" sind ihm "unbezweifelbare Fänomene". Seine Traumgläubigkeit ist identisch mit seinem Determinismus. Jüngers Berichte von Wahrträumen sind besonders in "Strahlungen" zahlreich. Unter anderem wird "Auf den Marmorklippen" als "Vorbrand" des 2. Weltkriegs und des Holocaust dargestellt - eine Geschichte vom Besuch beim Oberförster findet sich aber schon in "Das abenteuerliche Herz" . Das Thema ist charakteristisch für Jüngers Anspruch als Autor und sein Verhältnis zum Leser: Wenn der Autor Wahrträume hat, gar "auf der Höhe von Patmos" wie in "Strahlungen", wo Jünger eine Traumbegegnung mit Hitler andeutet, ist der Alte vom Berge nicht weit, ebensowenig die Charlatanie. Jünger kokettiert mit dem Guru-Spielen, präsentiert in den Tagebüchern entsprechende Zuschriften diverser "Feuerblumen", seufzt über die Ansprüche der Adepten, weist aber Wünsche nach Gründung eines 'Wilflinger Boten' zurück. Die Gemeinde tut ihm den Gefallen: Alfred Andersch (mit beiden befreundet) schilderte Jünger als "bösen alten Zauberer", Horst Janssen porträtierte ihn als "Nigromontanus" mit Goetheschen Augen. - Jünger hat Hitler in "Strahlungen" als "Traumfänger" charakterisiert, auf seine Art scheint er eine ähnliche Rolle spielen zu wollen. [Zu den Tricks der Leserbindung gehört auch die häufige Präsentation von Träumen in den Tagebüchern: den Adepten zur Deutung] - Dieser Nigromontanus-Schwarzenberg ist eine zentrale Figur in Jüngers mythischem System und die zentrale Figur in "Besuch auf Godenholm", der Bundeslade der Jünger-Gemeinde. - Charlatanerie, das Schielen nach dem Leser, gehört nach Valéry zur Schriftstellerei, wie Jünger beifällig zitiert. Dessen Andeutungstechnik (siehe z. B. die Schilderung einer Erschießung in "Strahlungen" ) geht aber darüber hinaus, auch wenn er so wenig wie Schmidt Dogmen verkündet. Er tritt deutlich mit metaphysischem Anspruch auf; der bei bei Schmidt ganz fehlt, trotz der Kosmologie des "Leviathan" . In beiden Fällen ist es ein ambivalentes, aus Distanz und Nähe gemischtes werbendes Verhältnis zum Leser; zudem schreiben beide mit autobiographischem Touch und mit einem gewissen Rätselcharakter, ähnlich wie Borges. Jüngers Andeutungen sind dabei eher Weisheitsrätsel, die Schmidts eher Wissensrätsel, an der Oberfläche: Hinter den Zitaten stecken eben auch Schmidts Mythen - auch eine Form von Überhöhung. - Das Reden in Rätseln, Bildern, Andeutungen, das heißt der Mangel an Präzision, die beide aber gerade beanspruchen, macht ihre Texte zu Projektionsflächen (~ Malbüchern).

Ein weiterer Faktor für Gemeindebildung: Machtphantasien und Wunscherfüllungen, bei Schmidt wie Jünger - und bei Karl May, ebenfalls einem gemeindebildenden Autor, mit Querverbindungen zur Schmidt-Gemeinde (von der es wieder Querverbindungen zur Jünger-Gemeinde gibt). Karl May ist, wie die meisten Trivial-Autoren, ein Meister der Macht- und Wunschphantasien, einige davon bei Schmidt wie bei Jünger (freilich auch ihre Gegenstücke, das unterscheidet beide vom Typus Karl May und der Trivialliteratur) sind schon genannt worden. - Von der Wahrheit der Träume ist es nicht weit zur mystischen Erleuchtung, und Jünger hantiert auch mit mystischem Vokabular: "Ich gewann einen Schimmer von 'Das bist Du'. Seit Jahren, seit Rio kam mir kein solcher Einfluß mehr zu", in Jüngers "Atlantischer Fahrt" ist dieses 'Rio' nachzulesen. Dieser (spätere) Mystizismus scheint zunächst der neusachlichen Ideologie der amoralischen, kameraartigen Wahrnehmung des frühen Jünger zu widersprechen, gleichgeblieben ist wenigstens der außerordentliche Wahrheits- und damit Machtanspruch.

Der heftig atheistische Schmidt hat von diesen mystischen Tendenzen eine säkularisierte Variante, seit Joyce (Portrait of the Artist as a Young Man) Epiphanie genannt. Nach Walter Höllerer ist sie der eigentliche Held des modernen Romans:

"Epiphanie, Erscheinung [ ... ] bezieht sich zunächst auf ein äußeres Erscheinungsbild, auf die Registrierung der Oberfläche. Was durch die Sinne in einem bestimmten Moment wahrgenommen wird, nimmt als Erscheinung Umrisse an. Im gleichen Vorgang aber wird Epiphanie als wahrgenommener Moment auch schon Erscheinung = Vision, vorgestellter Moment, der die einzelne Wahrnehmung von einem anvisierten Ganzen her aufleuchten, 'strahlen' läßt. Erinnerung und Erwartung verknüpfen die äußere Erscheinung mit den ältesten Menschheitserfahrungen und -träumen und den jüngsten vortastenden Entdeckungsversuchen. Augenblick und Einzelding werden so, wie bisher kaum je, betont".

Epiphanien machen im Alltag Mythos sichtbar, so lassen sich Höllerers Erklärungen vereinfachen, und genau das ist Schmidts (und Joyces, den Schmidt für die deutsche Literatur noch einmal erfunden hat) Methode, in seinen Metaphern mit dem immer wiederholten Blick auf erhabene Gegenstände wie Sonne, Mond und Sterne, die mit den alltäglichsten Dingen in Verbindung gesetzt werden, ebenso wie in der Rasterstruktur seiner Erzählweise. Auch in seinen Selbstinterpretationen, von "Berechnungen" bis zum "Faun" -Roman, finden sich Bemerkungen über snapshot-Wahrnehmung, die in der Erinnerung zur "Perlenkette" (nicht gerade Alltagsgegenstände) von Augenblicken werden. Beiden gemeinsam ist der physiognomische Blick, das Lob der Oberfläche: "Es gibt ein Schriftbild der Natur", sagt Jünger (oder auch, im "Arbeiter": "Im Wesentlichen gibt es den Unterschied zwischen Tiefe und Oberfläche nicht"), und auch Schmidt glaubt an die "Welt der Zeichen". Dieser anthropomorphisierende Blick, der Wirklichkeit auf Mythos, auf Altbekanntes also, reduziert, anstatt wirklich neue Wahrnehmung zu sein, ist wohl zurecht Oswald Wieners Hauptkritikpunkt an der von Schmidt beanspruchten Modernität. Peter Handkes Suche nach dem "mythenfreien Augenblick", seine Versuche, die "Sagensucht aus mir herauszuschwefeln" ("In der Niemandsbucht") entsprechen als Wahrnehmungsrealismus eher dem Programm der literarischen Moderne als Schmidts und Jüngers Wiedererkennen des Immergleichen. Ein Zug zur Epiphanie im Sinne von Wiederkennen eines Mythos steckt auch in Jüngers früher momentfixierter "Ästhetik des Schreckens" (Karl-Heinz Bohrer 1978), insofern sie an literarischen Mustern, vor allem an Poe, orientiert ist.

Scheinbare Parodie auf Epiphanien bei Schmidt, etwa wenn der Mond dem angetrunkenen Protagonisten von "Das Steinerne Herz" als Aspirintablette erscheint, sprechen ebensowenig für Ausbruchsversuche aus dem Mythos, Parodien bleiben an ihr Vorbild fixiert, und es gibt mindestens ebensoviele Beispiele, in denen der Wunsch nach Epiphanien ernsthaft erscheint. Auch wenn nicht alle Metaphern Schmidts sich nach diesem Muster lesen lassen - seine Bilder sind eine Art Platzhalter für gewünschte Epiphanien.

Die Nichtvergleichbarkeit der Sprachoberflächen verstellt möglicherweise den Blick auf die vergleichbare Erzählweise. Beide schreiben autobiographisch und ausschließlich aus der Ich-Perspektive, bei beiden überwiegt Reflexion die traditionelle Erzählhandlung, beide arbeiten mit einer modellartig auf wenige Personen reduzierten Wirklichkeit und einen entsprechend starken Zug zum Mythischen. Ganz explizit bei Jünger: Der ideale Romancier sei "fähig, ein vorbildliches Modell zu schaffen, das wie ein wirklicherer Kern in dem historischen Objekt enthalten war, und der es steuerte". Bei Schmidt fehlt allerdings wieder, wie schon beim Vergleich der Gewaltszenen, der historisch-philosophisch überhöhende Anspruch Jüngers ("vorbildlich", "Weltroman").- Beide zeigen ein mythisierendes Lebensgefühl, von Jüngers archaisierender Dialektik von Graben und freiem Feld in in den Kriegsbüchern bis zu Schmidts "Gefühl ständiger Exponiertheit". - Schließlich gibt es bei beiden eine Tendenz, mit Selbstzitaten eine eigene Mythologie aufzubauen, was als Wiedererkennungseffekt auch gemeindebildende Wirkung hat.

Magie ist eine Form von Macht, und sprachmagische Züge sind eine weitere Gemeinsamkeit: "Warum hatten die ... Pappeln .. keine Namen? Er wollte ihnen keine 'geben', er wollte nur ihre richtigen hören!". Schmidts Sprachtheorie ist immer eine Worttheorie, er hat kaum Interesse für die logischen (Grammatik) oder historischen (Etymologie) Dimensionen der Sprache. Das gilt auch noch für seine Etym-"Theorie" in "Zettel's Traum"; auch hier geht es um einzelne Wörter, auch hier korrespondieren die Wörter den Dingen, diesmal denen der Innenwelt (ganz im Gegensatz zur Sprachskepsis der Moderne). Kennt man die Etyms einer Person, kennt man auch ihr Bewußtsein, und natürlich ihre Wünsche: "Etyms" sind die Sprache der Wünsche. Sprachmagische Vorstellungen finden sich unter anderem in Jüngers "Lob der Vokale".

Inseln, Hölderlins "Heroenmütter", sind ein vorgeburtlicher Ort der Initiation, fast alle Reisen und Reisebücher Jüngers gelten ihnen. Eines von Schmidts Lieblingsbüchern ist Schnabels "Insel Felsenburg", ein Ort der Verwandlung, an dem man ein "neues Ich" erhält. - Der Roman ist übrigens längst nicht so demokratisch wie Schmidt in seinem Radioessay glauben machen möchte: Der patriarchalische Herrscher der Insel sitzt auf dem Burgberg der Albertsburg inmitten seiner Insel nicht anders als andere barocke Potentaten auf ihrer Bellevue, oder eben wie Jüngers Machthaber und ihre Trabanten auf ihrer Kasbah ("Eumeswil" ). - Schmidts "Gelehrtenrepublik" ist eine Inselreise, sein Buch der Metamorphosen. Seine immer wiederkehrenden Bilder von Kreisschlössern, Ringwällen, "Schalenwelten" wie der Mondkolonie in "KAFF" , gehören ebenso hierher wie seine Initiationshütten und Häuser in der Einöde, gefundene wie selbsterbaute, etwa in "Schwarze Spiegel", "Die Umsiedler" oder in "Aus dem Leben eines Fauns". Zu letzterer gibt es eine Parallele in Jüngers "Eumeswil" . Bei Schmidt ist es eine zufällig gefundene, herbeigewünschte Bretterhütte aus der Zeit der napoleonischen Kriege, bei Jünger ein aufgelassener Bunker.

Weiter zum 2. Teil

© Hartmut Dietz