Kruzifix-Sammler    Montalbano holte tief Luft und betrat in geduckter Haltung den Raum, die Pistole im Anschlag. Sogleich verlor er die Orientierung.

In dem Zimmer war eine Art Wald, doch was für einer?

Dann begriff er, und ihn überkam eine lähmende, irrationale Beklemmung.

Im Schein einer Petroleumlampe sah er Dutzende von Kruzifixen in allen Größen, manche einen Meter hoch, andere reichten bis zur Decke. Sie standen auf hölzernen Sockeln und bildeten einen dichten Wald aus Längs- und Querbalken, die einander aufgrund ihrer unterschiedlichen Höhe nicht ins Gehege kamen.

Der Commissario gelangte schnell zu der Überzeugung, dass Gregorio nicht hier war, und wenn, dann würde er bestimmt nicht schießen, aus Angst, ein Kreuz zu treffen. Dennoch stand Montalbano wie gelähmt da, er fürchtete sich wie ein kleiner Junge, allein in einer nur von Kerzenlicht erleuchteten Kirche. Am hinteren Ende des Raumes stand eine Tür offen, durch die der schwache Schein einer weiteren Petroleumlampe drang, doch Montalbano war unfähig, auch nur einen Schritt darauf zu zu machen. Was ihn schließlich veranlasste, den Wald zu durchqueren, waren Fazios Stimme und Caterinas verzweifeltes Gequieke, das wie das schrille Kreischen einer Maus klang. »Dottore, ich hab sie!«

Der Commissario stürmte los. Im Zickzack bahnte er sich einen Weg zwischen den Kreuzen hindurch, stieß eines beinahe um und stürzte dann durch die Tür in ein Zimmer, in dem ein Doppelbett stand.

Gregorio hielt seinen Revolver auf ihn gerichtet, und Montalbano warf sich zu Boden. Der Abzug klickte, doch das Magazin war leer. Montalbano rappelte sich auf. Der großgewachsene, bis auf die Knochen abgemagerte Alte stand mit seinem schulterlangen weißen Haar splitternackt vor ihm und blickte entgeistert auf seinen Revolver. Montalbano schlug ihm die Waffe mit einem Fußtritt aus der Hand.

Gregorio begann zu weinen.

Erst jetzt bemerkte der Commissario voller Entsetzen den Kopf einer langhaarigen, blonden Frau auf einem der Kissen. Ihr Körper lag unter der Decke verborgen. Ihm war auf der Stelle klar, dass es sich um einen leblosen Körper handelte.

Er trat an das Bett heran und hörte, wie Gregorio ihn mit einer Stimme wie ein Reibeisen anfuhr: »Wage es ja nicht, dich der Braut zu nähern, die Gott mir gegeben hat!«

Er hob die Bettdecke an.

Zum Vorschein kam eine verschlissene Gummipuppe. Der Großteil des Haarschopfs und ein Auge fehlten, eine Brust war eingefallen, und der Körper war an mehreren Stellen mit runden oder rechteckigen grauen Gummiflicken bedeckt. Offensichtlich hatte Gregorio die abgewetzten, löchrigen Stellen geflickt.

»Salvo, wo bist du?« Das war Augellos Stimme. »Ich bin hier, es ist alles in Ordnung.« Er hörte ein merkwürdiges Geräusch und warf einen Blick in das Zimmer nebenan. Gallo und Galluzzo hatten im Schein starker Taschenlampen damit begonnen, die Kreuze zur Seite zu rücken, um einen Durchgang zu schaffen. Dann traten wie durch ein Spalier Mimi und Fazio mit Caterina in ihrer Mitte heraus, die sich immer noch wehrte und schrille Laute von sich gab. Caterina sah aus, als sei sie einem Horrorfilm entsprungen.

Sie trug ein verdrecktes und löchriges Nachthemd, ihre gelblich weißen Haare waren zerzaust, ihre Augen weit aufgerissen. Sie war sehr dick und klein, und aus dem von Speichel triefenden Mund ragte ein einziger langer Zahn. »Ich verfluche dich!«, stieß Caterina hervor und durchbohrte Montalbano mit ihrem irren Blick. »Du wirst bei lebendigem Leib im Höllenfeuer verbrennen!«  - Andrea Camilleri, Das Spiel des Poeten. Köln 2015

Kruzifix Sammler

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