ryonaut  Vor etwa 25 Jahren organisierten Freunde von mir an der Universität eine Diskussionsgruppe, die sich mit Kryonik befaßte. Die Idee dahinter ist, daß Menschen nach ihrem Tod eingefroren und in flüssigem Stickstoff aufbewahrt werden. Wenn die Wissenschaft die Fähigkeit erworben hat, einen Leichnam aufzutauen und wiederzubeleben, werden diese Menschen aufgetaut und wieder zum Leben erweckt. Welche Schädigung auch immer für ihren Tod verantwortlich war, irgendwann in ferner Zukunft kann sie sicherlich behoben werden, zusammen mit den Verletzungen, die dem Körper beim Einfrieren und durch den Zerfall während der Aufbewahrung zugefügt worden sind. Früher oder später würde sich eine gütige künftige Gesellschaft der Eingefrorenen erbarmen und sie ins Leben zurückrufen, damit sie es vollenden könnten.

An der Universität waren meine Freunde und ich auf das Denken und Reden beschränkt, aber andere unternahmen die nötigen Schritte. Es wurden auch einige Gesellschaften zu diesem Zweck gegründet. Wir hatten angenommen, daß die Idee, sobald sie einmal veröffentlicht war, das Land mitreißen würde. Falls es funktionierte, hatte man ein weiteres Leben gewonnen, vielleicht sogar ein unbegrenztes, und wenn es fehlschlug, hatte man nichts verloren. Die Nichtreligiösen konnten sich auf ihrem Totenbett noch immer an eine Hoffnung klammern. - Robert Shapiro, Der Bauplan des Menschen. Frankfurt am Main 1995 (it 1709, zuerst 1991)

Kryonaut (2)  Nach dem Start überprüfte das Schiff routinemäßig den Zustand der sechzig Menschen, die in seinen Kryoniktanks schliefen. Es registrierte eine Funktionsstörung bei Person Neun. Das EEG verriet Hirntätigkeit.

Mist, sagte sich das Schiff.

Komplexe homöostatische Gerätschaften koppelten sich an die Stromversorgung an, und das Schiff setzte sich mit Person Neun in Verbindung.

»Sie sind halb wach«, sagte das Schiff, das den psycho-tronischen Weg benutzte; es hatte keinen Sinn, Person Neun zu vollem Bewußtsein aufzuwecken - immerhin würde der Flug ein Jahrzehnt dauern.

Praktisch bewußtlos, doch unglücklicherweise noch immer in der Lage zu denken, dachte Person Neun: Jemand spricht mit mir. Er sagte: »Wo befinde ich mich? Ich sehe nichts.«

»Sie befinden sich in defektem Kälteschlaf.«

Er sagte: »Dann sollte ich dich nicht hören können.«

»›Defekt‹, sagte ich. Das ist es ja; Sie können mich hören. Wissen Sie, wie Sie heißen?«

»Victor Kemmings. Bring mich hier raus.«

»Wir sind im Flug.«

»Dann laß mich schlafen.«

»Nur einen Moment.« Das Schiff überprüfte die kryonischen Anlagen; es inspizierte und untersuchte, und dann sagte es: »Ich werde es versuchen.«

Zeit verging. Victor Kemmings, unfähig, etwas zu sehen, ohne jedes Körpergefühl, fand sich noch immer bei Bewußtsein. »Senk meine Temperatur herab«, sagte er. Er konnte seine Stimme nicht hören; vielleicht bildete er sich nur ein, daß er sprach. Farben flössen auf ihn zu, dann überschwemmten sie ihn. Er mochte die Farben; sie erinnerten ihn an einen Kindermalkasten, einen von diesen semi-animierten, eine künstliche Lebensform. Solche hatte er in der Schule verwendet, vor zweihundert Jahren.

»Ich kann Sie nicht in Schlaf versetzen«, ertönte die Stimme des Schiffs in Kemmings Kopf. »Der Defekt ist weitreichend; ich kann ihn nicht korrigieren, und ich kann ihn nicht beheben. Sie werden zehn Jahre lang bei Bewußtsein sein.«

Die semi-animierten Farben umspülten ihn, aber jetzt hatten sie eine sinistre Beschaffenheit, die seine Angst ihnen verliehen hatte. »O mein Gott«, sagte er. Zehn Jahre! Die Farben verdunkelten sich.

Während Victor Kemmings paralysiert dalag, umgeben von tristem Flimmerlicht, erläuterte ihm das Schiff seine Strategie. Diese Strategie bedeutete keine Entscheidung seinerseits; das Schiff war darauf programmiert worden, im Falle eines derartigen Defekts zu dieser Lösung zu greifen.

»Was ich tun werde«, drang die Stimme des Schiffs zu ihm, »ist, Sie mit Sinnesreizen zu füttern. Die Gefahr für Sie ist sensorische Deprivation. Wenn Sie zehn Jahre lang ohne sensorische Daten bei Bewußtsein sind, wird Ihr Geist verkümmern. Wenn wir das LR4-System erreichen, werden Sie verblödet sein.«

»Na schön, womit hast du vor, mich zu füttern?« sagte Kemmings panisch. »Was hast du in deinen Datenspeichern? Die gesammelten Seifenopern des letzten Jahrhunderts? Weck mich auf, dann kann ich rumlaufen.«

»In mir ist keine Luft«, sagte das Schiff. »Ich habe nichts zu essen für Sie. Es gibt niemanden zum Reden, da alle anderen bewußtlos sind.«

Kemmings sagte: »Ich kann mit dir reden. Wir können Schach spielen.«

»Nicht zehn Jahre lang. Hören Sie auf mich; ich sagte, ich habe keine Nahrung und keine Luft. Sie müssen so bleiben, wie Sie sind ... ein schlechter Kompromiß, aber einer, zu dem wir gezwungen sind. Sie sprechen ja jetzt mit mir. Ich habe keine bestimmten Informationen gespeichert. Die Verfahrensweise in einem solchen Fall ist die folgende: Ich werde Sie mit Ihren eigenen verschütteten Erinnerungen füttern, mit Schwerpunkt auf den angenehmen. Sie besitzen zweihundertsechs Jahre Erinnerungen, von denen die meisten auf den Grund Ihres Unterbewußtseins gesunken sind. Eine ausgezeichnete Quelle, um daraus sensorische Daten für Sie zu beziehen. Seien Sie guten Muts. Die Lage, in der Sie sich befinden, ist nicht außergewöhnlich. Sie ist in meinem Zuständigkeitsbereich noch nie vorgekommen, aber ich bin darauf programmiert, damit fertigzuwerden. Entspannen Sie sich und verlassen Sie sich auf mich. Ich kümmere mich darum, daß eine Welt für Sie geschaffen wird.«

»Die hätten mich vorher warnen sollen«, sagte Kemmings, »vor meiner Zustimmung auszuwandern.«

»Entspannen Sie sich«, sagte das Schiff.   - Philip K. Dick, Die elektrische Ameise. In: P. K. D., Der Fall Rautavaara. Zürich 2000

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