Dntensivstation

 

- Milo Manara

Intensivstation (2)  Im Juli 1991 bekam ich Gelbsucht. Es zeigte sich schnell, daß ich einen Tumor im Kopfbereich der Bauchspeicheldrüse hatte. Im August schnitt mir ein Chirurg, ein Sohn von Édouard Balladur, den Kopf der Bauchspeicheldrüse auf und nahm verschiedene benachbarte Kleinigkeiten heraus. Ich lag acht Stunden auf dem Operationsstisch und fünf Tage auf der Intensivstation. Ich fand es sehr aufregend, sozusagen mit dem Tod zusammenzuleben. Und die Intensivstation kam mir paradiesisch vor. Ich wurde durch den Tropf ernährt. Eine Sonde drainiert ständig den Magen. Eine weitere steckt im Schwanz. In Gesichtshöhe wird durch einen Schlauch Sauerstoff zugeführt. Der kleinste Alarm löst den Auftritt von in Kindersprache plappernden Krankenschwestern aus. Man wäscht einem das Gesicht und den Schwanz und alles andere. Man bringt einem bei, sich im Bett umzudrehen, dann sich aufzusetzen, den Fuß auf den Boden zu stellen, zu einem Stuhl zu gehen und wieder auf die Beine zu kommen.

Ich war absolut sauer und niedergeschlagen, als mir diese Freuden plötzlich entzogen wurden und ich in ein Vierbettzimmer verlegt wurde, wo im Fernsehen endlos «der Film zu den Unruhen» bei einem grotesken Putsch in Rußland wiederholt wurde. Ich machte meinen Zimmergenossen sogleich klar, daß Gorbatschow in diesem Coup mit drin hing, seine Sache schlecht berechnet hätte und von Jelzin reingelegt werden würde. Man rief die Krankenschwestern, um sie darauf aufmerksam zu machen, daß ich nicht ganz richtig im Kopf sei. Nur wenige Tage darauf bin ich tatsächlich ins Delirium gefallen.

Das war ein ziemlich spannendes Delirium, und ich frage mich, ob es nicht (sozusagen) von der schöpferischen Inspiration genährt wurde, in der ich mich befand, seit ich krank wurde. Ich weiß, daß die Tatsache, dazu gezwungen zu sein, mein Werk erneut zu unterbrechen, mich in große Wut versetzt hat, dank derer ich die ärztlichen Untersuchungen und den chirurgischen Eingriff mit einer Art von fröhlicher Aggressivität über mich ergehen ließ. Wie dem auch sei, um den 20. oder 25. August 1991 begann ich jedesmal, wenn ich das Bewußtsein verlor, in die Hölle hinabzusteigen.

Ich besuchte aber nur den ersten Kreis der Hölle. Dieser Kreis war überfüllt, und die anderen waren voll und wiesen jeden zurück. Der erste Kreis ähnelte dem Bahnhof von Atlanta in Autant en empörte le vent2. Dort lagen oder krochen die Toten mit ihren Krankheiten und Verletzungen, die sie hierher gebracht hatten. Die einen liefen über die anderen. Wasser und Nahrung fehlten. Wir warteten auf den Zug, der uns fortbringen sollte, aber er hatte immer Verspätung und lehnte es brutal ab, Fahrgäste aufzunehmen. Unter den Toten herrschte große Wut.

Der ermordete Verleger Gérard Lebovici war da, auch wütend, vor allem, weil man ihn umgebracht hatte, weil seine Frau kurz danach gestorben war und sein Verlag einige Wochen davor untergegangen war. Ich träumte, daß er beschlossen hatte, über den Streit, den wir gehabt hatten, hinwegzugehen, wobei ich übrigens zugab, daß er im wesentlichen recht gehabt hatte. Er traf bei den Toten auf mehr Intelligenz als bei den Lebenden. Er war der Hauptorganisator eines allgemeinen Aufstands der Toten, die sich, als Opfer der herrschenden Barbarei, darauf vorbereiteten, an die Oberfläche zurückzukehren, um Ordnung zu schaffen. Mit leichtem Mißtrauen machte er mich zu seinem Sprecher, da ich noch zwischen der Hölle und der Welt der Lebenden hin- und her pendelte. Als ich wieder zu mir kam, erwachte ich folglich mit erhobener Faust, nannte die Krankenschwestern «Genossinnen» und wies sie warmherzig darauf hin, daß die Koordination bedeutende Unterstützung erhalten würde.   - Jean-Patrick Manchette, Chroniques. Essays zum Roman noir. Heilbronn 2005

Intensivstation (3)

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